
Juni 2023
Vom Himmel gefallen:
Kein Meister
Deutschland hat zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-Bundesliga keinen Meister. Was am letzten Spieltag auf dem Rasen zunächst anders aussah, entschied sich auf einer geheimen Sitzung des Präsidiums der Deutschen Fußballliga am Pfingstsonntag. Die eigentliche Entscheidung war wenige Zentimeter unterhalb des Rasens von Köln-Müngersdorf am Vortag gefallen. Aber der Reihe nach. Die Wahrheitsdrohne verfügt über alle nötigen Beweise, weshalb die Sensation hier exklusiv gemeldet werden kann.
Wie wir alle wissen, hatten zwei Vereine in der abgelaufenen Spielzeit versucht, auf keinen Fall Meister zu werden. Beide waren lange erfolgreich, wobei eine Nichtmeisterschaft nie allein in der eigenen Hand liegt, immer das Nichtversagen des Konkurrenten dafür benötigt wird. Die Erfolge des FC Bayern einzeln aufzuzählen, fehlt hier der Platz. Von Borussia Dortmund sei wenigstens an die Triumpfe in Bochum (1:1) und gegen Stuttgart (3:3 nach zweimal unbeabsichtigter Führung) erinnert. Am vorletzten Spieltag passierte es dann: Durch ein löwenstarkes Bayernversagen gegen Leipzig schlug der BVB zwei Punkte vor dem Konkurrenten auf. Das Debakel der Meisterschaft war kaum noch zu verhindern.
Bekannt ist der Verlauf des letzten Spieltags. Ein seitenverkehrter Robben-Move von Kingsley Coman – Grundschulaufgabe für jede Verteidigung – brockte den Bayern die Fernduellführung ein. Der BVB löste seine Aufgabe klar besser, als vor dem 0:1 zwei Dortmunder um die Wette vor dem Ball davonliefen, sodass Hanche-Ohlsen den Kopfball setzen konnte. Onisiwo wurde durch konsequente Mann-Nichtdeckung erfolgreich zum 0:2 eingeladen. Auf beiden Plätzen geschah von nun an das Gleiche (die Wahrheitsdrohne wusste nie, welches Stadion sie gerade überflog), Ballgeschiebe entlang der Strafraumlinie. Ein Unterschied vielleicht: Die Roten wählten die eigene, die Gelben die gegnerische Linie zum Schieben. In beiden Fällen waren eigene Treffer ausgeschlossen und dem Gegner jederzeit Tür und Tor geöffnet.
Zwischendurch gab es einen Elfmeter für Dortmund, obendrein noch berechtigt – Biene Maja in Not. Dabei ereignete sich eine von zwei Schlüsselszenen, die zur Deutschen Nichtmeisterschaft geführt haben. Die Wahrheitsdrohne enthüllt! Sebastien Haller, dem Elfmeterschützen, fallen vor den Augen von Millionen TV-Zuschauern plötzlich beide Augendeckel runter. Er tritt im Grunde blind auf den Ball und hätte trotzdem fast getroffen, aber Dahmen hält. Der Kelch beziehungsweise Pokal geht knapp am BVB vorbei. Plötzlich schwenkt die Kamera der sky-Bildregie zu einer verstörenden Szene auf die Tribüne: Matthias Sammer atmet erleichtert auf, beugt sich zu dem benachbarten Hans-Joachim Watzke und zieht dessen rechtes Bein von dessen linkem Bein herunter. Ganz langsam, damit wir es alle verstehen: Herrn Watzke scheint es trotz seiner vorgezogenen Totenstarre gelungen zu sein, eines seiner Beine über das andere seiner Beine zu schlagen oder, falls das nicht übertrieben klingt, regelrecht zu legen! Und Herr Sammer greift nach dem verschossenen Elfmeter nicht etwa an ein eigenes Bein, nein, er nimmt ganz deutlich und beinahe selbstverständlich das rechte Bein von Hans-Joachim Watzke, hebt es von dessen linkem Bein herunter und stellt es neben Hans-Joachim Watzke auf den Tribünenboden.
Halten wir die Spannung dieser Szene für einen Moment aus und schauen noch einmal auf den anderen Platz des Fernduells, nach Köln. Dort ist der FC die bessere Mannschaft und kann jeden Augenblick den für Bayern München erlösenden Ausgleich schießen. Die 73. Minute bricht an. Drei Kölner verabreden sich zu einem Konter und stürmen auf Jan Sommers Kasten zu. Da geschieht das Unfassbare. Im Köln-Müngersdorfer Rasen – wenige Meter vor dem Strafraum – schießen zwei Rasensprinkler aus ihren Versenkungen, rollen wild mit den Düsen und spritzen die Angreifer scharfstrahlig nass! Der Schiedsrichter pfeift ab, der Angriff misslingt und die Bayern führen weiter, ohne zu wissen warum.
Es fallen noch die restlichen Tore. Dann ist die Bundesligasaison zu Ende und Bayern München Deutscher Meister. Alles scheint wie immer zu sein. Auf der Bayern-Pressekonferenz lenkt man vom Fußball ab auf das Geistige. Thomas Tuchel spricht, nach ihm Uli Hoeneß über das von Tuchel Gesprochene: „Eine druckreife Ausdrucksweise. Das ist Bayern München. Er hat diesen Verein in zwei Tagen verinnerlicht.“ Die bei Borussia Dortmund versammelte Presse gratuliert Hans-Joachim Watzke zum Erreichen des Saisonziels und erinnert an dessen Aussage vor dem Spiel: Edin Terzic sei ein Mann, „der die Seele von Borussia Dortmund kennt“. Der FAZ-Kollege zitiert sich aus der Samstagsausgabe selbst: „Besondere Kenntnisse des Innersten des Arbeitgebers sind ja überall hilfreich.“ Auf welchem Weg er denn ins Innerste seines Arbeitgebers gedrungen sei, fragt er Terzic. Dessen Augen sind leer, der Blick ist tot. Als Antwort genügt das. In Dortmund sind alle zufrieden.
Bis der Pfingstsonntag anbricht. Hans-Joachim Watzke ruft das Präsidium der Deutschen Fußballliga zusammen und gesteht: Er hat den letzten Spieltag manipuliert. Der Geist Gottes habe ihm vor zwei Stunden befohlen die Wahrheit zu sagen.
Und die sehe aus wie folgt: Die Steuerung der Sprinkleranlage in Köln-Müngersdorf habe er persönlich gehackt. Aus seiner ersten Berufstätigkeit für ein Unternehmen, das Feuerwehrschläuche herstellt, verfüge er über einiges Wissen im Bereich Bewässerungstechnik. Mitgeholfen habe Edin Tersic, dessen Vater Schlosser gewesen sei und dem Sohn außer Fußballtricks auch technische Kenntnisse vermittelt habe. Die Stürmer des 1. FC Köln habe man gechipt und die Sprinkleranlage des Stadions so programmiert, dass per WLAN gemeldete Kölner Angriffe über einer bestimmten Harmlosigkeitsschwelle durch Ausfahren der Sprinklerköpfe gestoppt würden. Allein auf die eigene Unfähigkeit habe Borussia Dortmund sich dieses Jahr nicht verlassen können. Bayern München sei diesbezüglich zu einem echten Konkurrenten „herangereift“, wie Watzke sich ausdrücken wolle.
Dann müsse den Bayern die Meisterschaft aberkannt werden, befand man. Und weil Dortmund Urheber der Manipulation sei, könnten auch sie nicht Meister werden.
Genau, sagte Watzke. Und moralisch gehe das auch nicht, fügte er hinzu, weil nämlich er und Matthias Sammer einen Fluch über Sebastien Haller verhängt hätten vor dessen Elfmeter. Er, Hans-Joachim Watzke, habe sein rechtes (in übertragener Bedeutung: Hallers Schuss-)Bein über sein linkes Bein gelegt, wodurch die Schusskraft von Sebastien Haller blockiert worden sei. Das sei Voodoo, er habe das von einem Mentaltrainer des Vereins. Anschließend habe Matthias Sammer ihm geholfen, sein Bein wieder von seinem anderen Bein herunterzukriegen, was für die Wirksamkeit des Fluchs sehr wichtig, ihm aber wegen Altersbeschwerden nicht selbst gelungen sei. Matthias Sammer sei daher als Mittäter anzusehen.
Mai 2023
Etwas zu schön, um wahr zu sein
Ich war auf der Leipziger Buchmesse, wollte nachgucken, ob sie nach drei Entfalljahren noch lebt. Die Buchstadt lebt mit Sicherheit in ihren Straßenbahnmoderatoren. Wortreich helfen sie beim Einsteigen in die Linie 16. Am Hauptbahnhof und am Messegelände stehen Zwillingsbrüder, im Dienst ergraut, in der späten Ehrenfunktion sonnengebräunt. Ihre Megafone fungieren analog zu Literaturpreisen, schaffen Aufmerksamkeit für mit Bedacht und Wärme Gesprochenes wie, dass der Zug 45 Meter lang ist und in der Mitte die meisten Türen hat. Im Wagen wünscht eine österreichische Stimme vom Band „einen schönen Tag auf der Messe. Mein Name ist Nino aus Wien.“ Wer den nicht kennt (was ein Fehler ist), versteht vor lauter Lässigkeit nur Bahnhof. Nino, falls du das liest: Wir lieben das Gastland Österreich spätestens, seit wir deine verschlafene Stimme gehört haben. Trotzdem stress bitte nicht unser Hörverstehen.
Klar und deutlich gesprochen, besser als alles auf den Messelesungen, ist auf Sächsisch Folgendes: „Liebe Fahrgäste, bitte beachten Sie, dass ab sofort die Straßenbahn nur noch hält, wenn Sie zuvor die Haltewunschtaste gedrückt haben.“ Das Wort „Haltewunschtaste“ widme ich den betörenden Frauen, die mich vier Tage lang umgeben haben, die für mich alle diese Taste hatten. Die drücke ich aber nicht, sondern, weil es einfacher ist, euch selbst.
Das Wort und die Durchsage haben übrigens eine Kehrseite, und das ist eine böse Absicht. Weil keiner die Haltewunschtaste drückt, sondern alle sich freuen, dass sie haltlos schneller zur Messe gelangen, bleiben diejenigen, die zwischen Hauptbahnhof und Messe warten – vielleicht wohnen, vielleicht sich für besonders schlau gehalten haben – hinter Straßenbahnglastüren, die nicht für sie aufgehen, zurück. Und stehen da wahrscheinlich noch bis zur nächsten Buchmesse. Leipzig, du musst mehr Bahnen einsetzen!
Ein neues Leseforum gibt es. „Offene Gesellschaft“ heißt es. Buchmessechef Oliver Zille muss es eröffnen, mit einer Veranstaltung, die Deutschlands Demokratie aus den Augen von Exilschriftsteller:innen betrachten soll. Tut sie aber nicht. Eingangs- und Schlusswort hält die deutsche Kulturstaatsministerin. Zille nutzt seine Redezeit für eine abgrundtiefe Verbeugung vor ihr. Professorale Weihen spendet Jan Philipp Reemtsma der real existierenden Demokratie. Sie garantiere, dass niemand Verantwortung übernehmen müsse für die Politik seines Landes. Verhört? Mitnichten, vielmehr sei alles andere totalitär und was es, wenn die Masse sich nicht mehr engagiert, nur brauche, seien „ganz fleißige Menschen, die das dann für alle übernehmen.“ Demokratie, das seien ihre Institutionen, so werden es auf diesem Podium alle sehen. Claudia Roth wählt als einziges ihr Demokratieverständnis konkretisierendes Wort „leidenschaftlich“. Man soll es ihr glauben, darum spricht sie sehr laut. „Was ist Demokratie?“, fragt sie. „Dass wir hier sind, Bücher haben, frei unsere Meinung sagen können“, sagt die, die hier fast die halbe Redezeit lang frei ihre Meinung sagen darf. Falls man aus rhetorischen Platzhaltern Gebasteltes eine Meinung nennen will oder auch nur darf.
Als die türkische Filmemacherin Şehbal Şenyurt Arınlı endlich doch noch drankommt, beeilt sie sich den Schrecken in ihrem Heimatland auszugsweise zu verbreiten. Angefangen habe alles mit ausgeweiteten und außer Kontrolle geratenen Befugnissen der Sicherheitsorgane. Der afghanische Autor, dessen Name so geheim ist, dass er nur genuschelt wird (und nirgends zu lesen ist), malt gegen die Uhr ein noch schwärzeres Bild von seinem Land. Wie seine Vorrednerin lobt er anschließend Deutschland. Für dessen Demokratie sei einmal „ein Preis bezahlt worden“. Die Afghanen hätten die letzten zwanzig Jahre versucht den Preis ebenfalls zu bezahlen, das Bezahlte aber nicht erhalten. Gesagt wird weder, dass die Taliban von den USA erfunden wurden, um die Sowjetunion erst zu besiegen und später zu beseitigen (keine Träne von mir dafür), noch, dass die Türkei ihre Diktatur als NATO-Mitglied und Türsteher der europäischen Disco errichtet hat sowie dass in Deutschland die neuen Polizeigesetze und das verschärfte Strafrecht zu widersetzlichen Handlungen gegen Vollstreckungsbeamte jetzt schon verunmöglichen, dass gegen die Staatsgewalt angemessen protestiert werden kann. Kein Wort letztlich zum Thema der Veranstaltung. Schwarzer Kontrast allein weißelt das Display hinter der Bücherbuntheit: die Leerstelle der Realdemokratie.
Das Problem sind wir selbst, möchte ich ergänzen und es im Bild der Straßenbahn ausdrücken, die uns offiziell erlaubt, ihre Fahrt zu unterbrechen, uns einzumischen. Ich hätte die Haltewunschtaste an jeder Haltestelle drücken, meine Mitfahrenden bitten können noch etwas enger zusammenzustehen, damit ‚die Anderen‘ mitfahren können. Warum habe ich es nicht getan? Ich habe mich davor gefürchtet, von allen gehasst zu werden für die Unannehmlichkeit, die ich ihnen bereitet hätte, für die Erinnerung an ‚die Anderen‘, die es bequemerer Weise nicht gibt. Ich habe mich vor meinem Hass auf mich selbst aus den gleichen Gründen gefürchtet. Also habe ich geschwiegen. Und ‚die Anderen‘ und, im Bild gesprochen, die Wahrheit über die schmutzigen Hände unserer Gewählten und ihrer Finanzvorgesetzten bleiben auf dem Perron zurück, während die österreichische Stimme uns mit Fremdenverkehrswerbung umschmeichelt: „Leipzig ist eine wunderschöne Stadt. Wien ist auch schön. Könntet ihr euch mal anschauen.“
gedruckt in Heft 10/2023 der Zeitschrift Ossietzky
April 2023
Es sind immer drei
Wenn die Vögel singen und der Holunder blüht, bereiten volljährige Teenager sich auf das Abitur vor. Genauer der aufstrebende Teil derselben. Die Wahrheitsdrohne fliegt irritiert zwischen rauchenden Köpfen einer Lerngruppe hin und her. Die Frühlingssonne wurde als Einladung missverstanden, sich im nasskalten Gras eines Parks niederzulassen. Wer eine Blasenentzündung kriegt, nimmt den Nachschreibtermin, notfalls den zweiten. Es geht ins schriftliche Deutsch-Abi.
Woyzeck hat eine Persönlichkeitsstörung, stellt Sarah fest. Wegen der Erbsen, erläutert Tobias. Mir schmecken die auch nicht, fühlt Berzan sich in den Protagonisten ein und will sein Urteil begründen: Kennt ihr Erbsensuppe? Alina bleibt bei der Persönlichkeitsstörung: Der dreht am Rad, weil die Alte ihm fremdgeht. Versteh ich sogar irgendwo. Alina hat sich von ihrem Freund getrennt, um besser fürs Abi lernen zu können. Ihr Exfreund lernt Mechatroniker, versteht nicht, was Abitur bedeutet. Leider wird Alina jetzt nicht zum „Ball des Heeres“ nach Berlin fahren, wo ihr Exfreund mit ihr tanzen wollte, bevor er zur Bundeswehr geht. Sarah hingegen hat ihren Freund noch. Der will zur Polizei. Mein Freund müsste diese Erbsendiät machen, ruft Sarah, weil man beim Lernen auch mal einen Witz macht. Vielleicht würde er dann den Body-Mass-Index der Polizei schaffen. Ja, macht der keinen Sport oder was? Doch, aber es reicht nicht. Schweigen. Pessimistische Vergewisserung: Mit Abitur kann man erst mal studieren und irgendwas wird man dann schon, sagen alle. Und man verdient besser.
Irgendwas mit Gesellschaft war da noch, mahnt Tobias. Die Gesellschaft ist auch schuld. Ja, weil da gabs diese Stände, pflichtet Alina bei. Der obere Stand hat die Unteren diskriminiert. Und was war noch mal dieser Pauperismus? Keine Ahnung, Sarah muss passen. Den hab ich schon in Geschi nicht kapiert, da kam der auch vor. Pauperismus bedeutet Armut, erklärt Berzan. Die Ernten waren schlecht und es gab noch keine Supermärkte, wo man das Essen von woanders kaufen konnte. Ich kapier nicht, warum wir diese uralten Bücher lesen, beschwert sich Sarah. Das betrifft uns doch alles gar nicht. Gibts denn keine neuen Bücher oder sind die alle zu schlecht oder was? Das sind Klassiker, bremst sie Berzan. Außerdem, wollen wir jetzt lernen oder über die Schule diskutieren? Genau, meint Tobias. Drei Gründe reichen normalerweise. Erbsen, Eifersucht, Gesellschaft. Auf, weiter. Was war los mit diesem Faust?
Schweigen. Faust ist dieses Jahr der Unbeliebteste. Man erlebt eine Zeitenwende, es herrscht Inflation und dann läuft da ein Professor her, ist verbeamtet, verdient sechstausend brutto aufwärts, vögelt eine Vierzehnjährige, aber heult von Anfang bis Ende nur rum.
Tobias sucht die nächste Trias: Faust macht drei Entgrenzungsversuche – welche sind das? Alina traut sich: Zaubern, Osterspaziergang, Teufelspakt. Was ist an einem Spaziergang entgrenzend? fragt Berzan. Keine Ahnung, Alina klingt beleidigt. „Vor dem Tor“ heißt das Kapitel, also vielleicht: Er geht durch ein Tor. Er geht aus der ollen Studierstube raus. Immerhin geht er mal vor die Tür. Macht er ja sonst nicht. Sarah will jetzt auch einen Witz machen: Und braucht nicht mal den Hund dafür, weil der Pudel ist ja schon draußen. Nee, Leute, Tobias ist unzufrieden. Magie okay, Teufelspakt okay, aber da war noch was Drittes. Suizid! ruft Alina. Wieso Suizid? zweifelt schon wieder Berzan. Das ist doch die Grenze, da kommt doch nichts mehr. Oder doch? fragt Sarah. Ach so, wie in Reli meinst du, denkt sich Alina fächerübergreifend hinein in Sarah und weiter bis in Faust und hört plötzlich aus der benachbarten Kirche den Kirchenchor, der für den Ostergottesdienst probt: Christ ist erstanden! O nee, greift Tobias an seine Stirn, können wir weiterziehen? Das nervt jetzt echt, wenn man sich konzentrieren will. Man packt die Sachen und zieht in den hinteren Teil des Parks, wo nur noch die Vögel singen, die ihren Text geheim halten.
Es kann aber auch ein Zeitungsartikel drankommen, schockt Alina die Mitlernenden. Ja, oder sieben verschiedene Zeitungsartikel, setzt Sarah noch sechs drauf: bei „materialgestütztes Schreiben“. Tobias fällt rücklings in Gras, reckt die Arme gen Himmel: Wer liest bitte im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Zeitung? Dann sitzt er wieder und berichtet von einer verstörenden Erfahrung: Ich hab die Woche dem Nachbarn seine aus dem Briefkasten geklaut. So vor dem Abi mal eine, dacht ich. Kein Wort hab ich verstanden, Leute, ich schwöre. Um lauter B-Promis gings da, die keiner kennt, die irgendwelche Sachen gesagt haben, die keinen interessieren und das Ganze nennt sich Politik. Nee, wenn das kommt, gleich in den Papierkorb.
Und wenn noch ne Gedichtinterpretation dabei ist?
Dann halt das dritte.
März 2023
Speckgürtel
Der innere Frankfurter ist von einem unerklärlichen Alter, stellt die Wahrheitsdrohne fest, als sie die Überschrift einer Email der Polytechnischen Gesellschaft überfliegt: „Paulskirchen-Jubiläum – Zeitzeugen gesucht“. Viele Häuser in Frankfurt sind schön, weil sie aus der Paulskirchenzeit stammen, in der die Handwerker noch Muße hatten zu ihrer Arbeit. Von der Paulskirche aus fliegt die Wahrheitsdrohne konzentrisch in den Frankfurter Speckgürtel. Hier sind die Häuser von einer Hässlichkeit, die sie zur freistehenden Existenz zwingt, damit die Hässlichkeit zwischen ihnen Platz findet. Die Wahrheitsdrohne fliegt in den Gastraum eines Eiffler-Systembäckers und kreist über einem Ehepaar, das frühstückt.
Na, ich bring den jetzt mal weg. Er geht drei Schritte, dreht sich um: Zu viel des Guten. Guck dich mal um, was da noch kommt. Muss alles noch auf den Tisch drauf.
Nach drei weiteren Schritten bringt er die letzte Aktivität des Tages zu Ende. Es ist 11:40 Uhr Ortszeit. Er stellt den seiner Meinung nach überflüssigen Teller in das Fach einer Geschirrrückgabe, dreht sich um und schafft es mit nur fünf Schritten zurück auf seinen Stuhl.
Jetzt wird gegessen. Das gibt Sicherheit. Beim Essen kommt alles zu dir, du musst wenig machen.
Er isst jetzt. Das sieht sehr sinnerfüllt aus, bietet allerdings wenig Unterhaltung. Das Leben ist nicht zum Spaß da. Er will jetzt Verschiedenes haben. Servietten fehlen.
Ich geh mal Händewaschen, sagt sie, wird aber auf halbem Weg zurückgerufen. Da sind keine Servietten. Da hinten sind welche.
Ja, ich geh nur eben …
Er hat sich jetzt beinahe dreihundertsechzig Grad umgedreht, erst nach Servietten, dann nach ihr. Was soll er denn noch machen? Einfache Dienste sind sofort zu leisten. Macht sie auch. Ist ja kein großer Umweg, da sind die Servietten. Ja, sagt er. Da sind sie. Das Leben plant noch so viele Anschläge auf ihn heute, an Kleinigkeiten kann er sich da nicht freuen. Das muss ja noch nicht das letzte sein, was fehlt, sagt er, gespannt, ob sie sich davon festhalten lässt an seinem Tisch, an dem nichts los wäre, wenn sie auf dem Klo wäre.
Sie geht trotzdem. Das, weiß sie, hat keine Konsequenzen. Die kleinen Freiheiten sind das Lösegeld für ihre Persönlichkeit, die sie lange genug als Geisel genommen hatte, obwohl sie rechtmäßig ihm gehört. So oder so ähnlich hat er ihr das mal erklärt.
Der Andreas ist jetzt mit der Roxy zusammen, berichtet sie ihm als erstes nach ihrer Rückkehr. Ja gut, lautet die Antwort. Er muss halt aufpassen.
Die Roxy, sag ich dir mal ganz ehrlich, kann froh sein, was sie da gekriegt hat. Das hat die vorher ja noch nie gehabt.
Ich weiß.
Du musst auch mal das Haus sehen, das der Andreas gebaut hat. So über der Firma angefangen hat das im ersten Stock und nachher sind zwei komplett neue Häuser dagestanden auf dem Hof. Das bewohnt die jetzt alles mit. Wenn das mal gut geht.
Sicher. Das musste können, sonst ist in nem halben Jahr alles kaputt und kein Geld da zum Reparieren. Handwerker sind auch keine. Das Frankfurter Pack interessiert das nicht, die lachen über uns, aber das ist mir egal. Gib mir mal die Butter da. Die iss doch übrig.
Ja, vielleicht die Hälfte?
Mit halben Sachen wollen wir gar nicht erst anfangen. Gib mir mal den Salzstreuer.
Den hat der Vorige hier stehenlassen.
Na komm, wie der auch schon ausgesehen hat.
Aber jetzt haben wir nen Salzstreuer und müssen nicht aufstehen und einen holen. Sieh es doch mal so.
Das ist Zufall. Wenn ich da auch noch drüber nachdenken müsste, könnt ich gleich den Löffel abgeben. Gib mir mal die Wurst.
Es ist ein Geben und Geben wie im Kuhstall beim Melken. Er würde aber auch selber nicht drankommen an die Sachen. Wenn er die Arme ganz ausstreckt, kann er die Hände gerade auf den äußersten Wulst seines Speckgürtels legen. Das macht er manchmal. Dann sieht er angestrengt aus wie andere beim Arbeiten.
Der will jetzt das Bad neu machen, der Andreas. Ich weiß nicht, wie der das machen will. Vielleicht mit den grauen Fliesen, die hast du doch damals auch …
Nur für die Duschwanne.
Ja, richtig. Nee, für das andere sind die nichts, hast recht. Ja, sowas weiß der vielleicht gar nicht.
Jede Fettzelle war früher ein Alptraum, ist genau gesehen immer noch einer, der aber eingeschlossen im Fett seinen Schrecken in Bewegungslosigkeit getauscht hat. Seit der Gürtel ihn aus seinen Alpträumen rettete, bewegt sich nichts mehr in ihm. Er kann seine Kräfte darauf konzentrieren, dass sich auch außerhalb von ihm möglichst wenig mehr bewegt, jedenfalls nicht in seine Richtung. Außer Essen.
Es ist eine Krankheit, sagen alle, die ihn sehen, und bemitleiden ihn. Es ist das Beste für dich, sagte die Krankheit und befiel ihn. Die Liebe seines Lebens.
Was ihn wahnsinnig machen würde, wenn er es wüsste, ist, dass er in seinem Inneren wie Frankfurt ist: Wenn er sich umsieht von seinem Panzerturm aus, sieht er nicht sich, sondern immer nur den Speckgürtel um sich und das hat dazu geführt, dass sein Denken von seinem Speckgürtel übernommen wurde, während sein Inneres in eine immerwährende Abwesenheit gefallen ist und er es nicht mehr spürt.
Februar 2023
Frau mit Goldhelm
Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Antwort: Die Wahrheitsdrohne. Sie kann es, sie tut es zuverlässig. Überall und über allen kreisend sieht und hört sie alles, auch die Gedanken. Ihre Entwicklung hat mich mein halbes Gehirn gekostet, aber jetzt fliegt sie, enthüllt das Unheil ‚first hand‘ bei seinen kleinen und großen Urhebern. Und teilt es der Welt mit.
Zum Auftakt fliegt sie mit Nancy Faeser in die Türkei. Die Wahrheitsdrohne ist aufgeregt, die Türkei ist auf allen Kriegsschauplätzen bekannt für ihre Drohnen. Die sind aber gerade ausgeflogen. Während die deutsche Ministerin in Ankara redet, beschießen türkische Bayraktar TB2 Ziele in der nordsyrischen Autonomiezone, darunter ein Covid-Krankenhaus und ein Internierungslager für IS-Terroristen. Kurdische Menschen sterben. Deutschland stehe fest an der Seite der Türkei, redet Faeser, speziell im Kampf gegen Terroristen und in der Migrationspolitik. Die Türkei solle bei ihrem völkerrechtswidrigen Angriff „Verhältnismäßigkeit“ üben und das Völkerrecht einhalten. Während sie spricht, denkt Faeser an die hessische Landtagswahl 2023, aus der sie als Ministerpräsidentin hervorgehen will. Ihr türkischer Amtskollege Soylu denkt, während er zuhört, an die Präsidentschaftswahl 2023, die Erdogan gewinnen soll, damit Soylu weiter Innenminister bleibt. Krieg ist dafür gut. Türkische Freunde sind für Hessen gut.
Einige Wochen später fliegt Nancy Faeser im Helikopter über das brennende Berlin-Kreuzberg und sorgt sich um die Jugend. Die feiert Sylvester nach altdeutschem Brauch mit Pyrotechnik und ärgert sich über die Polizei, die das Brauchtum mit Kampfeinsätzen behindert. Verstehen die Jugendlichen noch die Bedeutung von Sylvester? fragt sich die Ministerin und wünscht sich eine Armada von Drohnen, die aus der Luft den Ärger beenden. Sie zählt die schwarzhaarigen Ausländer unter den Jugendlichen in dem von Ausländern bewohnten Stadtteil und übermittelt die Zahl an die (noch) Regierende Bürgermeisterin. In den darauffolgenden Wochen kreisen beide Politikerinnen mit Helikoptern über der missratenden Jugend und rufen sie zurück auf den rechten Weg. Frau Faeser denkt während ihres Kampfeinsatzes: Wenn Frau Lamprecht als Verteidigungsministerin gehen muss, bin ich mit meinem fest gesprayten Goldhaar die logische Nachfolgerin. Ursula von der Leyens Haarfestigerhelm ist der Maßstab und ich entspreche ihm am genauesten. Tage später wird es dann ein Mann. „Es herrscht Krieg in Europa. Da hat der Kanzler den Helm auf.“ (Ingo Zamperoni, tagesthemen vom 17. 1. 2023) Der ernennt einen anderen Innenminister zum Kriegsminister.
Na gut, dann Hessen, denkt Faeser und träumt davon, ihre feministische Innen- und Justizpolitik im waldreichsten Bundesland zu verwirklichen. Diese Politik geht so: Dass in Deutschland jedes Jahr fünfzigtausend Menschen, die Mehrheit aller Gefangenen, nur deshalb im Gefängnis sitzen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten, ist in Ordnung, weil unter diesen Gefangenen Männer sind, die ihre Partnerin geschlagen oder eine Frau gestalkt haben. Dass neunzig Prozent der eine Ersatzfreiheitsstrafe Absitzenden alleinstehend sind, dass eine Körperverletzung in weniger als acht Prozent der Fälle vorliegt, dass Stalking in der Fallstatistik gar nicht auftaucht, während zwei Drittel auf kleinere Diebstähle, Betrügereien oder Schwarzfahren entfallen, interessiert Faeser nicht. Sie blockiert eine im Koalitionsvertrag versprochene, vom FDP-geführten Justizministerium mittlerweile vorgeschlagene Reform, die Haftzeiten nicht länger gleichsetzt mit Geldbeträgen, die in Gefängnissen während dieser Zeiten erarbeitet werden. Zeit ist Geld, denkt Faeser. Das lernt jedes Kind, das lasse ich mir von Statistikern und FDP-Staatssekretären nicht ausreden. Überhaupt Freiheit – was soll das sein? Habe ich es schon erlebt? Wenn jedes Haar im frisch gesprayten Helm seinen Platz gefunden hat, wo ist da noch Freiheit? Erhobenen Hauptes gehe ich meinen Weg, von Windschatten zu Windschatten, durch ein Land oder, okay, demnächst Bundesland, in dem jeder meinen Namen kennt und sich gebildet nennen darf, wenn er ihn richtig schreiben kann. Die Polizei hört auf mein Kommando und zeigt der Jugend, was ein deutsches Sylvester ist. Fest an der Seite der Türkei praktiziere ich Verhältnismäßigkeit bei der gewaltsamen Durchsetzung von Autobahnprojekten. Nie wieder wird mein Hessen als „waldreichstes Bundesland“ beleidigt. Und meinen Rembrandt finde ich auch noch, der mich und meinen Goldhelm unsterblich pinselt.
gedruckt in Heft 03/2023 der Zeitschrift Ossietzky
Zum Jahresende 2022 schließt sich das NOISE-GATE. Mehr als zwei Dutzend Mal kam Unerhörtes über die Hörbarkeitsschwelle gekrochen zum Kochen und klapperte mit den Topfdeckeln. Die Ablösung heißt WAHRHEITSDROHNE und rappelt und zappelt sich noch zusammen, um letzte Wahrheiten von der Oberfläche eines sterbenden Planeten einzusammeln, schnieeef. Einer aber lebt, und zwar schon siebzig Jahre. und das ist mein Verleger, mit dessen Siebzigstem die Kolumnen sich die Griffelgriffe in die Hand geben.
Geburtstagswünsche

Bei Inflation und Kriegsgeschrei, im Zeitenwende-Einerlei greift mancher wieder zu nem Buch und denkt: Da find ich, was ich such. Derweilen schmiert die Wirtschaft ab, der Preis geht hoch, das Geld wird knapp, die Währung wankt, es schwankt der Euro – wir brauchen eine neue: TEURO! Bloß wessen lockig Konterfei prangt vorne auf dem Geldschein neu? Na klar: Wie Albrecht Dürer (grob) sieht aus mit siebzig: TRAIAN POP! Den nehmen wir, er lebe hoch und seine Buchverkäufe ooch! Dies Glas dem größten Kleinverleger und Literaturstraßenfeger! Ganz Deutschland sitzt daheim und liest, was aus den Federn pop(p)t und schießt. Die POP-Literatur wird Leitkultur und Traian Pop? Fährt AUF KUR.
Ewart Reder
Die Wahrheitsdrohne kreist seit 2023. Davor öffnete sich das …
Noise Gate
Dezember 2022
Die Aufgegebene

Das Hupkonzert gegen die „Letzte Generation“ schwillt an. In Flugzeugen werden demnächst Hupen verbaut, damit auf dem Rollfeld mitgetrötet werden kann. Beinahe hätte ich da einen Beitrag überhört, den die Erde zu der Debatte gesprochen hat. Wer bitte? Ach richtig, das war ja mal unser Planet:
Die Protestierenden haben recht, und zwar absolut. Und genau das ist ihr Problem, weshalb ich ihnen rate ihre Aktionen schrittweise zu verändern. Aber langsam, ich will meine Gedanken über Recht und Rechthaben erläutern.
Recht haben ist das eine. Es kann glücklich machen, weil man sich orientiert fühlt, und zugleich unglücklich, weil man unbeliebt ist. Denn das ist man immer, wenn man recht hat. Niemand hat gerne unrecht, und genau das Gefühl gibt einem jemand, der recht hat: dass man unrecht hat, solange man nicht seiner Meinung ist. Recht haben und anderen sagen, dass man recht hat, sind darum zwei Dinge. Das erste ist schön und wichtig, das zweite eine Dummheit, denn es gibt andere Wege andere von dem zu überzeugen, was richtig ist, als das Richtige zu behaupten.
Recht hat die „Letzte Generation“ deshalb, weil ich als Planet des Lebens die Voraussetzung für alles Leben bin. Und damit auch für alles Recht. Wenn meine Existenz – nicht als toter, sondern als Leben ermöglichender Planet – vom Staat wie von einer Mehrheit der Menschen in diesem Staat täglich und tödlich angegriffen wird, darf man und muss man mich verteidigen, besitzt dazu auch das im Grundgesetz verankerte Recht auf Widerstand. Das Rechtssystem krankt daran, dass man den Menschenrechtsgedanken des 18. Jahrhunderts nicht weitergedacht hat. Dann hätte man nämlich auch der Natur und in letzter Konsequenz mir als dem Ganzen Rechte zuerkennen müssen. In Spanien hat eines meiner dortigen Sumpfgebiete seit Neustem eigene Rechte, die von Anwälten vertreten werden können und von Gerichten verteidigt werden müssen. In Ecuador sind solche umfassenden Naturrechte Teil der Landesverfassung. Wenn wir das in Deutschland hätten, müssten sich sowohl die Politik als auch das Verhalten der Bürger:innen radikal ändern, jedenfalls wenn Deutschland vorhätte ein Rechtsstaat zu bleiben. In letzter Konsequenz bräuchte es dann keine Protestformen Marke „Letzte Generation“ mehr.
Ich präzisiere: Die bräuchte es dann nicht mehr, wenn die tödliche Bedrohung von mir aufhören würde. Alles andere wäre zu wenig. Auch Gesetzen kann nicht vorbehalten werden, mich zu schützen, wenn Gesetze es nicht schaffen, meine Bedrohung zu stoppen. Dann ist es wie mit den Menschenrechten: Die müssen nirgendwo stehen und gelten trotzdem. Die muss kein Staat anerkennen, damit ihre Träger, die Menschen, für sie eintreten dürfen. Meine Rechte dürfen von jedem Menschen vertreten werden und gegen jeden existenzbedrohenden Angriff muss das sogar geschehen.
Aber wie sollte das aussehen? Mein Rat: Möglichst so, dass die zerstörerische Politik wie der zerstörerische Lebensstil der Mehrheit aufhören. Und wie passiert das in einer Demokratie? Wohl nur so, dass die überwiegende Mehrheit mitmacht und die Politik und den Lebensstil verändert. Die Masse muss es machen, früher oder auch später. Auch wenn ein späteres Mitmachen nicht mehr alle Schäden reparieren wird. Jemand anders als die überwiegende Mehrheit wird die Veränderung nicht bewirken. Woran liegt das? Das liegt an den organisierten Verursachern und Anstiftern der Zerstörung, die sich gegen jeden anderen Einfluss als den der Masse immer durchsetzen werden. Ich spreche von den Megavermögen und ihrem einzigen Interesse: so schnell wie möglich maximal zu wachsen. Früher sagte man Kapital dazu. Wenn wir, die Menschen und ich, es nicht schaffen, uns gegen dieses Interesse durchzusetzen, ist jeder Widerstand Kindergeburtstag, mag er auch noch so radikal und konsequent daherkommen.
Ich gebe euch mal ein Beispiel aus meiner Welt. Der astronomischen. Unser Kampf als Sterne richtet sich, wie ihr wisst, gegen die schwarzen Löcher. Das sind Konzentrationen von Materie, die alles um sie herum verschlingen, bevor sie zum guten Ende sich selbst zerstören. So was wie euer Kapital also. Wenn ich nun meine Bruder- und Schwestersterne auffordere, das Prinzip Schwerkraft, das die schwarzen Löcher für ihre finsteren Ziele ausnutzen, grundsätzlich zu überdenken und ihr eigenes Verhalten zu ändern, passiert nichts. Dann habe ich recht und alle sind gegen mich, weil sie ungern unrecht haben. Außerdem leugnen die meisten Sterne, dass es Schwarze Löcher gibt, weil man die in seinem Alltag als Stern so selten trifft. Besser läuft es, wenn ich stattdessen gegen das Schwarze mobilisiere, das überall zwischen uns und den schwarzen Löchern existiert und das, wie ihr inzwischen wisst, überwiegend Antimaterie ist, also auch ein natürlicher Feind von uns Sternen. So was Ähnliches wie die schwarze Politikrichtung bei euch. Dagegen macht irgendwann auch der dümmste Stern mit und so kommt eine Bewegung in Gang, die irgendwann das richtige Ziel hat: allgemeine Selbstverteidigung. Aber immer noch fehlt etwas, das dir wahrscheinlich auch in dieser Glosse fehlt oder mindestens bis zu den letzten Sätzen gefehlt hat. Und das ist Humor. Ohne den wird die beste Argumentation mit der smartesten Strategie dahinter immer scheitern. Warum? Weil Humor der Ausdruck des Lebenswillens ist und nicht dessen bloße Behauptung. Gegen ein Leben, das sich selbst ernstnimmt, also Humor entwickelt, ist kein Kraut, kein schwarzes Loch und auch kein dynamisches Anlagevermögen mehr gewachsen.
Ich hoffe, ich konnte ungefähr klar machen, was ich mit Recht und Rechthaben versus am Ende das Recht erfolgreich verteidigen meine. In diesem Sinne wünsche ich euch (und vor allem mir!) einen fröhlichen, intelligenten und letztlich erfolgreichen Protest gegen meine Zerstörung.
Bezahlt, aber nicht veröffentlicht von der Freitag
November 2022
Die Paarversteherin

Im Haushalt tue ich, was ich kann. Was zugegeben nicht viel ist. Es geht aber nicht nur um das Was, finde ich, wichtig ist auch das Wie eines Tuns. Wenn ich zwei Adjektive nennen sollte, um die Art und Weise meiner Haushaltstätigkeit zu beschreiben, wären es „zuverlässig“ und „freudvoll“. Zuverlässig, weil ich, wenn ich das auch nicht mehr machen würde, als faul gelten könnte. Freudvoll, weil ich mich durch mein Tun minutenlang unangreifbar fühle. Aber ich sehe grad, die Spülmaschine möchte was zu dem Thema sagen:
Na ja, mich würde er eh im nächsten Satz erwähnen. Bin ich es doch, worauf seine Haushaltstätigkeit sich im Grunde beschränkt. Genauer eine Hälfte von mir: mich ausräumen. Wohin Geschirr und Besteck gehören, hat er auf rätselhafte Weise herausgefunden. Okay, nicht dass da nicht anschließend jedes Mal die obligaten Siebensachen noch rumliegen würden, die entweder angeblich neu oder deren Plätze angeblich seit je ungeklärt seien. Oder dass die Chefin nicht „zuverlässig“ ihre mindestens drei Ablageüberraschungen erleben würde jedes Mal. Aber gut, sehen wir es mal nicht so eng. Das macht er und das kriegt er irgendwie hin. Mich einräumen hingegen will die Chefin lieber selbst. Das mache er, wenn er es macht, auf so charakteristische Weise falsch, sagt sie, dass sie ihn dabei jedes Mal wieder kennenlerne. Was offenbar nicht ihre vorrangige Absicht ist. Dabei habe er doch seinerzeit, sagt die Chefin, das Auto, als man noch eins gefahren sei, so vorzüglich beladen jedes Mal vor der Urlaubsreise.
Ein Autokofferraum, wenn ich das einwenden darf, hat auch keine drei unterschiedlich hohen Fahrkörbe mit Features wie Klappstachelreihen für Teller, Tassenetageren, gezackten Kappenleisten mit Gläsersymbol und nicht zu vergessen Korbrollen, weil sonst die Dinger nicht fahren würden. In einen Kofferraum stellt man Sachen mehr oder weniger einfach rein. Wie übrigens auch in einen Geschirrschrank oder ein Tassenregal. Darüber hätte die Chefin mal nachdenken können: Warum kriegt er das hin? Was genau ist beim Mich-Einräumen das Kriterium, das er mit seinem Kenntnisstand und seinen motorisch-kognitiven Fähigkeiten unweigerlich reißen muss? Es hat etwas mit den Vorgaben zu tun, die ich für die Platzierung von Gegenständen in mir mache. Da kann man nicht einfach so angewuchtet kommen und irgendwelche Koffer noch im Laufschritt mit Schwung … Neee. – – – Da braucht es ein ausgeruhtes Auge. Einen kühlen Kopf. Jahrzehnte Erfahrung. Räumliches Vorstellungsvermögen gepaart mit im Laufe der Jahre unverrückbar gewordenen Grundsätzen, einer festen Reihen- und Rangfolge der zu berücksichtigenden Objekte sowie zu guter Letzt das berühmte Fingerspitzengefühl. Das fehlt den Männern ja so bemitleidenswert generell.
An der Stelle mache ich einen Perspektivwechsel. Bis hierher habe ich ausgeführt, wie sich die Dinge aus Sicht der Chefin ausnehmen und wie ich sie mit ihr gewöhnlich bespreche. Das spiegeln wir jetzt mal. Mich-Einräumen aus Sicht der männlichen Hilfskraft. Ganz einfach: Was drin ist, steht nicht mehr rum. Was zu spät kommt, bleibt draußen und fährt beim nächsten Mal mit. Merken Sie was? Die zwei Perspektiven sind miteinander prinzipiell unvereinbar. Das ist Krieg bis zum letzten Teelöffel ohne jede Chance auf eine Verhandlungslösung. Schade nur, dass die beiden das weder kapieren noch irgendeine Neigung entwickeln, ihre Unterschiedlichkeit als Reichtum zu erleben. Auch schade übrigens, dass sie entschiedene Gegner von smart home sind. Für mich wäre smart home die einzige Chance, mich über meine Beobachtungen mit einem intelligenten Gegenüber auszutauschen. Und für die beiden wäre die Chance noch größer: dass nämlich ein Konsilium aus kompetenten Küchen-, Büro-, Unterhaltungs-, Sport- und Erotikgeräten ihre Probleme besprechen und auf dieser Grundlage eine vernetzte Paartherapie entwickeln sowie durchführen könnte.
gedruckt in Nr. 23/2022 der Zeitschrift Ossietzky
Oktober 2022
Die Einzigentartete

Im Herbst besuche ich gern die Alte Fasanerie, einen dreihundert Jahre alten Wildpark südlich von Hanau. Dann röhren dort die Hirsche und selbst die Wölfe hören auf zu heulen, um zu hören, was die Geweihträger in rebus amoris vortragen. Insgeheim gehe ich aber wegen der Rehe hin. Tausche hundert Strophen Bassgesang gegen eine zierliche Kopfdrehung, ein abwägendes Schlenkern zweier schlanker Ohren. Geradezu heiß bin ich auf das weiße Reh. Mir schlackern die Eigenohren, sobald es spricht:
Häh? Was ist denn Besonderes an mir? Hatten wir die Hautfarbe nicht schon als unwichtig durchschaut? Die Menschen hinter dem Maschenzaun werden allerdings rückfällig, sobald sie mich sehen. „Boah, guckma, ein WEISSES Reh!“, schreit die Fünfjährige ihre Familie aus den umliegenden Waldstücken zusammen. Vati, Mutti plus drei stellen sich zu einem Chor auf und wiederholen meine Fellfarbe.
Oder es ist Mammi, die mich als Erste entdeckt. „Ach guck mal, ein WEISSES Reh!“, ruft sie aus und merkt gerade, dass ihr Junge nicht mehr hinterherdackelt, sondern seit zehn Minuten mit anderen Kindern in einer hübsch bepflanzten Betonröhre spielt. Die ist weit weg. Soll die Mutter schreien oder gestikulieren? Hingehen ist keine Option – zu weit. Also führt sie eine Art Ballett mit eingelegter Lippenarie vor mir auf. Reißt beide Arme hoch und tänzelt, senkt, als sie einen Blick des Juniors erhascht zu haben meint, fallbeilartig einen Arm, bis er auf mich zeigt, stellt das Megaphon der anderen Hand um den Mund und formt stumm ihren Schrei: EIN. WEISSES. REH! Worauf folgt: „Nee? Hat er wohl nicht verstanden.“ Schreit also doch: „Guck mal: ein GANZ WEISSES!“ Der Junge lässt resigniert die spielaktiven Hände sinken, gefangen im Blickkontakt. „Komm doch mal her! Hier ist ein GANZ WEISSES REH!“ Eine Minute muss der Junge noch so dastehen, dann darf er sich ganz langsam wieder umdrehen und in seiner Spielröhre verschwinden, denkt er und macht es. Nun läuft die Mutter doch hin. Währenddessen packt die fünfköpfige Familie drei Futtertüten aus, von denen ich zirka zwei durch den Zaun inhaliere. Gut, dass ich eine Wiederkäuerin bin, denke ich mal wieder. In meinem Äser könnte ich die zwei Tüten nicht zwischenlagern. Das zu machen verlangt aber die Solidarität mit meinen rehbraunen Schwestern, die kein Mensch jemals füttert und mit denen ich den Zweitüteninhalt teile, sobald die Familie weitergezogen ist und nicht mehr guckt. Aber da naht schon die Mutter des Röhrenjungen mitsamt diesem und seiner Schwester, dazu einer Freundin und deren zwei Kindern, im Laufschritt und Albinofieber: „Da ist es!“, jauchzt die Entdeckermutter, als hätte sie zwischenzeitig befürchtet, sie spinnt und es gibt mich gar nicht. Ich trete drei vornehme Schritte zurück, ehe die sechs Personen in den Zaun prallen. Man gilt ja als scheu. „Or wie SÜÜÜSS!“ beeilt sich jedes der vier Kinder als erstes zu rufen.
Und dann röhrt der Alte von nebenan. Das ist der Moment, in dem ich selbst zweifele, ob es mich noch gibt, so schnell sind alle sechs weg, meine Ehedemfans. „Wo ist er, Mammi?“, „Ich seh ihn nicht!“ hallt es mit wegen des Brunftlärms erhobenen Stimmchen vielkehlig durch den Kunstwald. Wieder ist die Entdeckermama die schnellste: „Da ist er!“, deutet sie in ein eher lockeres Dickicht. „Seht ihr ihn?“ Als alle vier Kinder bestätigt haben, sagt sie mit Seitenblick zur Freundin: „Das ist DER CHEF.“ Beide Frauen haben feuchte Augen. Der Alte röhrt noch mal und die Freundinnen zittern, träumen vom Leben in einer klaren Hierarchie und ohne verwirrend ähnliche Waldwege oder Spielröhren, von denen man nicht weiß, in welche das Kind schon wieder verschwunden ist. Ich nutze die unbeobachtete Zeit zu einem Stelldichein mit meinem jungen, schweigsamen Lieblingshirsch und denke, während ich genieße: Ihr seid so unlogisch, liebe Menschen. Wenn wir alle mit diesen klapprigen Meistersängern schlafen würden, hätten wir Rehe, nach Charles Darwin, doch längst selber diesen Blechröhrenbass.
gedruckt in Nr. 21/2022 der Zeitschrift Ossietzky
September 2022
Die Geschmähte

Neulich war ich in Kassel, weil ich sie noch mal sehen wollte, die documenta fifteen, falls es sie denn noch gab. Kunstausstellungen werden ja gerne verboten. Obwohl das Totschmähen und -schweigen doch effizienter ist (fernwestliche Weisheit). Tatsächlich habe ich sie bei bester Gesundheit angetroffen:
Guten Morgen, Herr Ewart Reder. Guten Morgen, Herr Volker Beck. Guten Morgen, Herr Sascha Lobo. Möge das Geschenk des Wassers Gottes Liebe aus Ihrer Dusche auf Sie herabregnen lassen. Der Süden hat eine Neuigkeit für Sie: Man muss Wasser gar nicht heizen. Das tu ich gern: teilen, was die ganze Welt weiß außer ein paar Gesellschaften, die sich als Vorleger des Bettes definieren, in dem das Geld mit sich selbst schläft – teilen mit diesen Gesellschaften. Lumbung, die Reisscheune, ist groß genug für alle. Auch für jüdische Menschen selbstverständlich und ganz besonders. Zweitausend Jahre Vertreibung, Ausgrenzung und Vernichtung sichern ihnen die Anteilnahme und Solidarität aller Menschen, von denen viel zu viele Vergleichbares erlebt haben. Nicht Gleiches. Begriffe machen Besonderes gleich, darum erzähle ich lieber. Dass ich Fehler mache, weiß ich, bevor ich sie mache, darum tun sie mir aber nicht weniger leid hinterher. Vielleicht wussten manche nicht, dass der Staat Israel, der viel Gutes hat, seine Regierung und seine Armee Verbrechen begehen. Dann kommt hier die nächste Neuigkeit aus dem Süden: Alle Staaten, Regierungen und Armeen tun das. Und wieder erzähle ich lieber: Deutschland unterstützt, bewaffnet und befähigt damit die Türkei, Volksgruppen in ihrem Südosten und außerhalb ihres Staatsgebiets anzugreifen. Übrigens: Von Opfern dieser Aggression stelle ich eine Kunstdefinition aus, ein Mann aus Rojava erklärt die traditionellen Liebeslieder seines Landes folgendermaßen: Alles hat zu tun mit der Schönheit der Frauen, die alles um sie herum in Schönheit verwandelt und damit in Kunst. Wie gesagt, ich mache Fehler – du darfst auch welche machen. Hiermit spreche ich Menschen an, die das bestehende Weltverhältnis normal und in Ordnung finden. Jede/r kann lernen, sich korrigieren, und ich persönlich will das mehr als alles andere. Lernen. Wie ich zum Beispiel selber gerechter werde. Sodass mich auch Menschen ohne Geld besuchen können. Oder dass nicht alles, was es in meiner Nähe zu essen gibt, das Doppelte kostet wie im Rest von Kassel. Oder dass die sobat-sobat = „Freunde“ = Kunstvermittler:innen nicht die eigenen Masterarbeiten und Kulturkontakte wichtiger finden als die Menschen, die sie führen, oder die Kunst, die sie zeigen. Oder dass die Besucher:innen ihre Meinung sagen können auch außerhalb der spärlichen von mir geschaffenen Gelegenheiten, die gerne weiter geflüstert werden und nur halb öffentlich gemacht. Und dass hoffentlich meine Künstler:innen nicht schon nächstes Jahr das Gleiche sind wie die Auserwählten anderer internationaler Kunstausstellungen: gemachte Leute. Also unecht.
August 2022
Der Mauerfäller (West)
Ich stehe an einem Bahnsteig und versuche, nicht von einem der Tausende neben mir in das Gleisbett gestoßen zu werden. Was es in solchen Situationen nicht gibt, sind ein Zug und die Aushaltbarkeit der Situation. Außerdem hängt hier kein Flachbildschirm, mit dem ich ruhiggestellt werden könnte. Als ich gerade durchdrehe, steht ein überdimensionales automatengedrucktes Neun-Euro-Ticket vor mir in der Luft, flattert mit den Papprändern und schreit mich und die Mitwartenden an:
Hey Leute, habt ihr noch Bock?! Ich hab noch so was von Bock!! Grad mal zwei Monate Wahnsinn und schon wieder seelenruhig zu Hause sitzen?? Niemals!! Aller Wahnsinns Dinger sind drei!! Herein spaziert in die gute Tube, ich spritz euch in den hintersten Winkel Deutschlands!! Nach Sylt? Na warum denn nicht auf die Flachwichser-Pflegeinsel! Zugspitze? Aber ja, immer druff, bisse oben platt iss! Wie bitte?? Ob ich was ohne Ausrufezeichen sagen könne.
Klar:
Fällt – heute – aus. Grund dafür ist ein kurzfristiger Personalausfall. Wir bitten um Entschuldigung.
Hintergrund: Das Personal sitzt kurzfristig in der Klapsmühle. Ja Leute, ihr müsst auch nicht alle gleichzeitig. Das funktioniert doch nicht. Werdet mal ein bisschen digitaler. Schwarmintelligenz – schon mal gehört? Der Provinz auch mal die Chance geben. Oder mal Mittwoch Mitternacht. Stattdessen quetscht ihr euch alle dahin, wo es nett ist, und nur am Wochenende. Werktags, die ganzen Berufspendler – die braucht doch keiner. Nehmt einfach deren Züge, möglichst mit Fahrrad, dann habt ihr ganz schnell eure Ruhe und die Industrie auch. Bloß weil dreimal so viele Leute Zug fahren, lassen wir doch nicht mehr Züge fahren. Und wenn wir sie hätten – das würden wir nie tun!
Ich sage „wir“, weil ich ein Ministerkind bin. Ich regiere mit. Wusstet ihr eigentlich, dass mein Dad, der Volker, ein richtiger Spaßvogel ist? Er gilt als langweilig, aber das Gegenteil ist wahr. Ein Lauser ist das, ein Streichemacher. Der freut sich total über mich. Ihr wisst ja nicht, wie langweilig regieren ist. Da muss man mal was Verrücktes machen wie mich. Also der Volker ist zufrieden mit mir. „Du hast einen Modernisierungsschub ausgelöst“, sagt er zu mir. Komplimente muss man nicht verstehen. „Durch dich ist der ÖPNV digitaler geworden.“ Kapier ich auch nicht. „Einfacher geworden.“ ?? „Stärker auf die Fahrgäste ausgerichtet“. ??? „In weniger als 0,1 Prozent der Züge musste das Sicherheitspersonal eingreifen.“ Das stimmt, weil in weniger als 0,1 Prozent der Züge irgendwelches Sicherheitspersonal auftaucht. Egal, der Volker hat einen englischen Nachnamen, auf Deutsch bedeutet er: der Wissende. Vor allem freut sich der Volker über mich und das ist es, was für ein Kind zählt.
Ich bin sogar ein bisschen stolz auf mich. Im Grunde bin ich der westdeutsche Mauerfall. Auf einmal können die Menschen reisen! Die Mauer der Armut um sie ist gefallen (für einen Sommer). Jetzt sehen sie das Land, das sie bisher nur aus dem Westfernsehen kannten. Sogar die Gefängnisse werden bald leer sein in Deutschland. Fünfzigtausend Menschen sitzen gerade in einem deutschen Knast, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Die häufigste dieser Strafen ist die fürs Schwarzfahren.
Zum Schluss verrate ich euch noch ein Geheimnis. Aber bitte sagt es nicht dem Volker. In Wirklichkeit hat mich Robert Habeck gezeugt, und zwar im Auftrag der Automobilindustrie. Kein Autofahrer, der für neun Euro mal mit einem Regionalzug gefahren ist, traut sich das jemals wieder. Zum Psychiater geht er: Herr Doktor, habe ich das alles geräumt? Und dann rennt er ins nächste Autohaus.
gedruckt in neues deutschland, Ausgabe vom 8. 8. 2022
Juli 2022
Dein Zug!
„Mein Zug kommt“, verabschiede ich mich und beiße mir auf die Zunge, dass mir keine dümmere Ausrede eingefallen ist, um dem langweiligen Gespräch zu entkommen. „Welcher Zug?“, fragt mein Gegenüber, „glauben Sie an fahrende Züge? An den Storch glauben Sie wohl auch noch.“ Ich drehe mich um und gehe unentschuldigt. Da schwebt eine Dieselwolke vom Himmel herab und entbindet einen Regionalzug, der Folgendes zu mir spricht:
Du hast mich mächtig angezogen / an meiner Sphäre lang gesogen. / Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen / fasst Fahrgast dich! Wo bleibt der Freudenruf / zu dem die Deutsche Bahn dich einst erschuf? / Bist du es, der von meinem Rauch umwittert / in Altmetallwaggons das Land durchzittert, / ein wie Verkehrswege gekrümmter Wurm? / Auf Ausfallplänen, im Lügensturm / fahr ich hin und her, / schlaf ich ein und aus! / Im Durchsagen-Lügenmeer / und in deiner Phantasie zu Haus. / Ein wechselndes Fehlen / ein Zeit-und-Geld-Stehlen / so schlaf ich auf dem Webstuhl der Zeit / als Gottes mobile Unsichtbarkeit!
Aber ich seh schon: Klassik tröstet dich auch nicht. Dauerkarteninhaber, du dauerst mich. „Host dem Auto abgeschworn, hot sich’s fia di ausgefohrn.“ Ist noch vom Andi, dem alten Verkehrsmistbauer. Der neue kann gar kein Bayerisch, ich frag mich, wie der das CSU-Wahlprogramm fehlerfrei abschreiben konnte. Aber ich merk schon, Politik ist auch nicht so deins. Du reist gerne? Ja, das ist grad schlecht. Die Zeiten haben gewendet, weißt du: U-Turn gemacht und weg. Überall Vergangenheit. Aktuell ist Verweilen angesagt. Wie viele deutsche Bahnhöfe kennst du überhaupt? Behauptet, ich würde nirgends mehr fahren, und belegt seine Behauptung mit fünf bis sieben Heimatbahnhöfen. Da beleg ich jedes Gleis wahrscheinlicher als der die Tatsache meines Nichtvorhandenseins. Man kommt schließlich mit dem Fahrrad auch zum Bahnhof. Einfach mal Fresse halten und die Bahnhöfe des Heimatlands abradeln! Ich könnt grad neidisch werden, ich weiß gar nimmer, wie ihr ausschaut, ihr stillen Guten allüberall.
Trotzdem sage ich: Garage ist besser. In der Garage geht nichts kaputt. Also nicht, weil nichts mehr ganz wär. Sondern, weil da ganz andere Bedingungen herrschen. Garagen sind die Bodenhaltung der Fahrzeuge. Ein Fahrzeugwohllabel ist meines Wissings schon im parlamentarischen Verfahren. O Gott, das klingt so nach „Fahren“ …! Nee, langsam, die Mehrheit kommt zu Stande, read it from my screen. Immer bloß die Tierarten werden gerettet – wir Züge sterben auch aus! Der landesweite Museumsstatus muss jetzt kommen und dann darf kein Weiß- oder Schwarzfahrer mehr in uns fahren dürfen. Dann muss jeder stehend von der Bahnsteigkante Abstand halten müssen, und zwar von uns. Da kann es keine zwei Meinungen mehr geben und am besten gar keine mehr. Nur noch die Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnsteig. Reicht doch. Was für die Deutsche Bahn gut ist, kann für Deutschland nicht schlecht sein. STOP STOP STOP = Deutschlands Galopp!
Ach komm, jetzt ist er mir eingeschlafen, der Fahrgast. Na den werd ich wecken. Der wird vor seinem fahrplanmäßig erwarteten Zug noch mal einschlafen! Ganz leise alles Liebe ins Ohr geflüstert:
Dein Zug!
Schachmatt!! – – – Ääh. – Wiebittewass??
Sorry. Ist mir noch nie passiert: In der eigenen Kolumne eingeschlafen! Peinlich.
Aber was hatte ich auch für einen süßen Traum! Einen Schach–Traum. Grad hatte ich einem rot-gelb-grünen König Matt IN EINEM ZUG angesagt …
gedruckt in Nr. 15/2022 der Zeitschrift Ossietzky
Juni 2022
Der gläserne Hamlet
Heute hat meine Bierflasche das Wort. Von dieser Stelle aus haben schon so viele Sachen gesprochen und meine Bierflasche musste still zuhören, durfte nicht mucksen (oder glucksen), wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Das macht was mit einer Bierflasche. Ich spüre es. Wir kennen uns ja schon lange. Stehen uns nahe, sage ich mal. Ehe ich also noch richtig Ärger kriege mit ihr: Bühne frei für meine Bierflasche – prost!
Ja, prost. Und dabei immer schön in die Augen geschaut!
Wen oder was habe ich vor mir?
Ich blicke auf einen Schädel mit geöffnetem Mund. Rein oder nicht rein?, das ist hier die Frage. Die Original-Hamletfrage ist übrigens keine Entscheidungsfrage, wie viele denken, sondern eine Frage der Bewertung. Was ist schlimmer?, fragt Hamlet sich. Und frage ich mich. Zweierlei Übeln stehe ich gegenüber: dem Verschmäht werden – vielleicht das Schlimmste, was Flaschen und Menschen überhaupt kennen – oder alternativ dem Verschluckt werden von einer fremden, unappetitlichen und obendrein undurchsichtigen Macht.
Ich stelle mir aber noch mehr Fragen. Am Anfang eines Dates mit dem Kerl stelle ich andere Fragen als in der Mitte oder am Ende.
Anfangs, wenn ich noch voll bin, gucke ich seinen Schädel an und frage mich: Ist er schon voll oder ist es noch früh am Abend? Was war schon alles und was kommt noch? Eine Bierflasche weiß, dass sie nicht die Einzige ist im Leben eines Mannes. Wir stehen in einer langen Reihe von Erfahrungen, die für unsere Männer sein müssen. Eine Bierflasche kapiert so was. Es ist nicht Eifersucht, was ich empfinde, sondern Unsicherheit, welche Rolle ich für ihn spielen werde. Traut man uns Bierflaschen gar nicht zu, aber wir sind sensibel und beziehungsorientiert, typische Melancholiker.
Wenn ich nur noch halb voll bin, gucke ich ihn an und stelle den Fragen-Klassiker: Halb voll oder halb leer? Da wirds zwischen uns richtig emotional. Stehen wir uns jetzt näher, sind wir uns ähnlicher geworden, seit die Hälfte von mir ein Teil von ihm ist? Seine Blicke sagen eindeutig: Ja. Wenn es nicht Liebe ist, mit was er mich anguckt, dann auf jeden Fall etwas mir inhaltlich Vertrautes. Eine Wärme, wie sie inzwischen auch in mir herrscht. Eine innere Weichheit, wie auch ich sie hinter dem harten, dunklen Glas meines Äußeren verberge. Ein leicht bitterer Beigeschmack – er nennt ihn „das Leben“, ich sage „Hopfen“ dazu, aber das sind nur Äußerlichkeiten zwischen zweien, die ihr Inneres miteinander teilen.
Am Ende, wenn ich leer bin, werden meine Fragen grundsätzlich. Ist die Leere in mir gleich der Leere in ihm? Eine Leere, die mir von Geburt, oder sagen wir „ab Werk“, fremd ist – woher habe ich sie? Entstand sie nicht durch ihn? Und ist es dann abwegig, ihn als Quelle und Urheber meiner Leere wahrzunehmen? Verhält es sich allerdings so, muss ich feststellen, dass zwischen uns ein für mich unvorteilhafter Tausch stattgefunden hat. Ich gab ihm alles, was ich hatte und was er im Übrigen durchaus zu schätzen weiß. Er gab mir im Austausch dafür seine Leere und guckt enttäuscht durch mich durch, während ich umgekehrt durch ihn jetzt weniger durchblicke als je zuvor. Der Eindruck verdichtet sich noch, wenn er anfängt mit mir zu reden und sich unzutreffender Weise von mir verstanden fühlt.
Mein Fazit als Bierflasche lautet: So oder so ist er mein Schicksal und ob dieses schlimm ist, weiß ich nicht, da ich nichts außer seinen Schädel je kennengelernt habe und mein Schicksal also mit nichts vergleichen kann.
Mai 2022
Der Hörende
Ursprünglich wollte an dieser Stelle meine Bierflasche sprechen. Aber die kann warten. Wenn etwas in meinem Leben die Gewähr bietet, mir in alle Zukunft treu zu sein, dann ist es die Bierflasche. Daher spricht an dieser Stelle heute mein Balkon. Ich beneide ihn um das, was er erlebt, wenn ich nicht da bin, und habe ihn gebeten, etwas davon mit mir zu teilen.
Was heißt ‚mit dir‘? Das hier lesen Unzählige, die das genauso brennend interessiert.
Ich muss zunächst meine Lage erklären. Aus der ergibt sich nämlich, was ich erlebe: Vis à vis steht ein zweistöckiges Acht-Parteien-Mietshaus mit vier Balkonen. Zwei gucken von oben herab auf mich, zwei auf Augenhöhe zu mir herüber. Auf mindestens einem Balkon sitzt oder steht eigentlich immer mindestens eine Person und unterhält sich, sei es mit einer weiteren Person auf dem Balkon, sei es mit einer Person auf einem anderen Balkon oder sei es auch mit einer auf dem Hof stehenden Person, was dann noch unwesentlich lauter wird. Die vier Parteien, die keinen Balkon haben, stehen meistens auf dem Hof und unterhalten sich, entweder untereinander oder mit einer Person, die allein auf einem der Balkone steht und auch jemanden braucht, mit dem sie sich unterhalten kann. Hier ist eigentlich immer was los.
Aber warum erzähle ich dir das? Du sitzt doch oft genug auf mir, könntest es selber mitkriegen. Ich weiß, du behauptest immer dezent wegzuhören, weil die Mitteilungen deiner Nachbarn dich angeblich nichts angehen und du überdies versuchst dich auf dein Buch zu konzentrieren. Was meiner Meinung nach unmöglich ist bei dem Dauergespräch. In das bin ich und bist gelegentlich auch du akustisch nun mal miteinbezogen. Aber egal, ich erlebe hier schon so einiges.
Oben links die Rentnerrunde zum Beispiel. Saß heute wieder beisammen. Der Mieter ist letztes Jahr in Rente gegangen, die meisten seiner Freunde sind da schon länger. Von denen wird er noch nicht so richtig ernst genommen.
„Na, warste wieder auf der Arbeit?“, fragt einer. „Biste mal wieder hin und hast geguckt, was die so schaffen? Erzähl doch mal.“
„Na ja“, sagt der Mieter, „gestern war ich schon mal wieder da. Die haben so Meetings jetzt, das glaubst du nicht. Geleitet wird das von einem Manager. Der Teamleiter muss kommen, von jedem Team, und die anderen können online teilnehmen, oder sie kommen in die Firma, grad wie jeder lustig ist. Aber glaub nicht, dass da jemand kommt – online. Mein Teamleiter hat das Ganze verpennt, der war zwanzig Minuten zu spät da – online. Da war er dann auch alleine von seinem Team, nee wirklich, das kann sich keiner vorstellen. Na ja, zu essen gabs und zu trinken. Also sagen wir mal: zu essen. Und viele waren da nicht, also gabs genug. Aber sonst, nee ganz ehrlich, keinen Tag zu früh bin ich da weg. Das will sich keiner mehr antun.“
Oder oben rechts, der Ex-Alleinerziehende. Mit den drei alleinerziehenden Töchtern. Eine steht heute im Hof mit ihrem Jungen und klingelt. Opa winkt vom Balkon. Eine Minute später kommt er raus und fragt aufgeräumt: „Und? Wo geht‘s hin? Pizza, Schnitzel, Hamburger?“
„Sorry, wir haben grad gegessen“, sagt die Tochter und steigt ein, als Opas Auto geblinkt und mit einem Stöhnen die Türen aufgemacht hat. Gedankenverloren steigen Opa und Enkel zu.
Aber wo fahren die jetzt hin? Was machen die jetzt – der eine hungrig, die zweite schuldig an der verratzten Unternehmensplanung, der dritte den zwei anderen einfach nur ausgeliefert? Ich werde es niemals erfahren! Manchmal will ich auch gar nicht mehr zuhören. Wenn es spannend wird, gehen die Leute rein und machen die Balkontür zu oder sie steigen in ihre verdammten Autos und streiten sich da drin weiter. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Buch, in das ich mich vergraben könnte und so tun, als hätte ich keine Ohren.
April 2022
Das Solidarische
Neulich komme ich nach Hause, da guckt mich mein Haus so merkwürdig an. Als ob ich irgendwas falsch gemacht habe. Oder vielleicht ein kompletter Idiot bin. Ich mag so nicht angeguckt werden. Aber ich weiß, dass man sich über Blicke auch schnell mal täuscht. Darum habe ich das Thema offen angesprochen und mein Haus gebeten, sich zu erklären:
Ja was, du kommst einfach so nach Hause, als wäre es dein gottverdammtes Recht, nach einem anstrengenden Tag zu dir nach Hause zu kommen und alles so vorzufinden, wie es dir passt. Dieser Blick hat mich genervt: Ach, was hab ich doch für ne hübsche Wohnung und was ist doch das kleine Häuschen drumrum so niedlich! Sag mal guckst du keine Nachrichten? Ist bei dir angekommen, dass Millionen Menschen entweder überhaupt kein Haus mehr haben oder aber ein Haus, in dem kein einziges Fenster mehr drin ist und vielleicht nicht mal mehr alle vier Wände?? Findest du, dass du allein auf der ganzen Welt das selbstverständliche Recht hast in einem niedlichen kleinen Häuschen zu wohnen, das dir alles bietet, wonach deine Bequemlichkeit verlangt? Es gibt übrigens Artgenossen von dir, die haben längst angefangen den Kriegsopfern zu helfen und manche haben sogar Platz gemacht in ihrer Wohnung oder ihrem Haus, damit andere wieder ein Dach über dem Kopf haben. Und was machst du? Du erklärst deiner Frau, warum es Kriege gibt, und gehst zufrieden ins Bett, wenn sie nicht mit Gegenständen nach dir geworfen hat. Hast du dich schon mal gefragt, ob Häuser ihren temporären Inhalt genauso niedlich finden wie umgekehrt? Ob Häuser mit ihren Bewohnern glücklich sind? Oder konkret, ob ich mir in meinem Innern nicht auch was anderes vorstellen oder gar wünschen, ja, aus tiefstem Steinherzen ersehnen könnte als dich unempathische Nuss?!
Damit du es weißt: Wir Häuser leiden mit, wenn unsere Schwestern und Brüder von irgendwelchen geisteskranken Menschen bombardiert werden. Uns ist es nicht egal, dass in Charkiw die Blüte der sowjetischen Moderne, der Konstruktivismus oder, wie du sagen würdest, der Bauhausstil gerade in ein Steinmehlgebirge verwandelt wird. Wir schreien vor Schmerz, wenn die Menschen vor Angst schreiend ihre Häuser verlassen oder aber, weil sie das nicht mehr geschafft haben, unter deren zerstückelten Körpern sterben müssen. Und ich sag dir noch was: Auch unsere entfernteren Verwandten vergessen wir nicht, seit eure Medien bequem nur noch den Nachbarkrieg übertragen. Wir denken immer noch mit Stolz und mit Wut an die frühislamischen Pfefferkuchenhäuser von Sanaa, die erst von eurem Klimawandel kaputtgeregnet wurden, jetzt von den Raketen eures Lieblingskunden Saudi-Arabien ausgelöscht werden. An die stilvollen orthodoxen Kirchen von Tigray, die in einer Koproduktion von korrupten Separatisten, Truppen eines größenwahnsinnigen Friedensnobelpreisträgers und einer unmenschlichen Nachbardiktatur eliminiert werden. An die Häuser der Bauern und Bäuerinnen von Afrin und den anderen okkupierten Kantonen des nordsyrischen Rojava, zerschossen von deutschen Panzern, in denen türkische NATO-Alliierte saßen und weiter sitzen.
Bist du noch da? Nee, ich frag nur, weil ihr Menschen oft wegrennt, wo nachgedacht wird. Sich gruseln ist ja auch angenehmer. Na dann, grusel dich weiter vor deinem Fernseher. Und freu dich auf zu Hause jeden Abend, den du von deinem Bullshit-Job kommst. Nur guck bitte nicht genauer hin im Haus. Wir Häuser sind solidarisch. Ich schick immer mal einen Stein in die Ukraine, ein Stück Regenrinne nach Jemen, eine Türklinke nach Tigray. Du merkst es nicht und ich kann es geben. Ewig steh ich eh nicht. Spätestens, wenn eure Totrüstung sich ihren Namen verdient hat und Krieg endlich auf der ganzen Welt herrscht, bin ich weg. So lange wünsche ich dir einen geruhsamen Feierabend.
gedruckt in Heft 08/2022 des Ossietzky und in neues deutschland, Ausgabe vom 24.04.2022
März 2022
Westöstlicher Wahn

Ukrainisches Leben braucht Frieden auf allen Plätzen ohne Grenzen und ihre Verletzung. Braucht Respekt wie jedes Leben.
Februar 2022
Die Bewegte
Demonstration kommt von lateinisch demonstrare: zeigen, hinweisen, nachweisen. Logisch gesehen ist das Verb mysteriös. Zeigen tun Zeichen. Wie kann ein Zeichen das, was es zeigt, zugleich nachweisen, sprich beweisen? Wir fragen die Demonstration selbst: Wie machen Sie das? Was ist Ihr Trick?
Du kannst du sagen. Ich bin nichts anderes, als was du bist. Ich bestehe aus Menschen, du auch. Ich bin viele, du auch. Menschen, die mich machen, merken, dass sie nicht alleine sind. Menschen, die mich nicht machen, merken das nicht. Sie denken, sie wären Einzelwesen, anders als alle anderen, was in gewisser Hinsicht stimmt, aber in der Hauptsache nicht: Menschen sind gleich. Je weniger die Menschen gleich sind, desto weniger sind sie Menschen. Diese Behauptung muss nicht eingeschränkt werden, da die grundlegende Gleichheit der Menschen das ist, wovor sie einheitlich weglaufen. Die Welt entwickelt sich immer weiter weg von der menschlichen Gleichheit. Und da komme ich ins Spiel.
Die Menschen entwickeln sich immer weiter weg von dem, was sie grundlegend sind. Das macht sie unzufrieden, und Unzufriedenheit will gezeigt werden. Also machen die Menschen mich. Im Kern bin ich immer das Zeichen für Unzufriedenheit. Weil diese aber aus der verfehlten Richtung der Menschheitsentwicklung resultiert, bin ich immer auch ein Zeichen der Umkehr. Halt, Stopp, Leute. Wir gehen in die falsche Richtung. Das kann ich zeigen, indem ich beherzt in die Gegenrichtung gehe und dahin so viele wie möglich mitnehme. So entsteht der Eindruck einer sich besser orientierenden und gleichzeitig zusammenwachsenden Menschheit. So entsteht Freude und Angstlosigkeit, weil sich alle grundlegend respektieren und merken, dass endlich eine bessere Richtung eingeschlagen wurde. Vor Freude schlägt die eine oder der andere dann mal ein Schaufenster ein. Auch Freude will sich ja zeigen.
Hier ist mein Geheimnis: Ich bin, was ich zeige. Ich bin unzufrieden und zeige Unzufriedenheit. Ich bin Mensch unter Menschen und zeige, dass ich das bin. Es ist wie bei der Monstranz, meiner kürzeren Schwester. Sie zeigt das Allerheiligste. Sie ist das Allerheiligste. Wie bei Salomos Tempel: Er war heilig. Er beinhaltete das Heilige. Sein Allerheiligstes beinhaltete einen Schrein. Dieser beinhaltete das Allerheiligste: Gottes Worte.
Kommen wir auf das Richtungsthema zurück. Da herrscht einige Verwirrung. Für die Menschen, die nach Jerusalem zogen, war das Allerheiligste das Ziel. Sie wussten, dass das Leben Bewegung ist und dass die Bewegungen von Menschen eine Richtung haben. Wenn die Menschheit sich nun in die falsche Richtung bewegt, nennen diejenigen, die die falsche Richtung beibehalten wollen, sich konservativ. Es soll bleiben, wie es ist, sagen sie, was nichts anderes heißt als: Es soll in die falsche Richtung weitergehen. Dagegen setzen die Unzufriedenen ihr Zeichen: Nein. Die Richtung und die Welt müssen sich ändern.
Wenn du mich fragst, sollten diejenigen, die mich machen, sich durch ihre Bewegungsform ausdrücken. Wer für das Privateigentum an der Erde und deren rücksichtslose Zerstörung demonstriert, sollte das im Stehen tun. Das haben wir nämlich gerade. Wer für Nationalstolz, rassische Überlegenheit, Führertum oder die Diskriminierung von Frauen, Fremden und Andersdenkenden demonstriert, sollte rückwärtsgehen. Die Dinge hatten wir schon und haben sie glücklich hinter uns. Das Rückwärtsgehen ist übrigens gesund für Menschen, die sich in den immergleichen Bewegungen festgelaufen haben. Professor Gerd Schnack, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivmedizin, empfiehlt, ein Stück des täglichen Wegs rückwärts zu gehen, um den Bewegungsapparat zu lockern. Wer zusammen mit Faschisten und Antisemiten gegen Gesundheitsmaßnahmen demonstriert, sollte einmal in die Luft springen und dabei ein Selfie machen. Unterzeile: „Ich bin der einzige Mensch auf der Welt. Die Fake-Menschen um mich rum wurden in einem virtuellen Fick von Angela Merkel und Bill Gates gezeugt.“ Die Demo ist damit schon zu Ende. Mehr Bedeutung ist nicht.
Wer hingegen für die Gleichheit der Menschen in einer prosperierenden, friedlichen und freigiebigen Welt demonstriert, sollte rennen, als ginge es um das eigene Leben. Um das geht es nämlich auch. Für diese Art Unzufriedenheit, für dieses Ziel ist es die allerhöchste Eisenbahn. Polizisten, die solche Demonstrationen ‚begleiten‘, sollten vorneweg oder hintennach mitrennen müssen. Sonst begleiten sie ein Zeichen, das sie zuerst mit ihrer Langsamkeit, mit ihren Kesseln, Greiftrupps, Ingewahrsamnahmen nebst Strafanzeigen wegen Abwehr von Polizeigewalt (in den neuen Polizeigesetzen: „Angriff auf Vollzugsbeamte“) zu einem Zeichen ihrer eigenen Starre umgelogen haben.
veröffentlicht in Heft 4/2022 der Zeitschrift Ossietzky
Januar 2022
Gutes Neues, Frankfurt!

Dezember 2021
Weihnachten im Schloss Bellevue
FWS aus einem Fenster seines Schlosses blickend: Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, mit denen ich Hartz IV dereinst ersann. Klappts diesmal wohl, die Macht so festzuhalten, dass die Agenda ewig knechten kann? Den Gerhard gibt der Olaf gar nicht schlecht, bei dem ist wenigstens die Glatze echt. Und einen Oskar wirds diesmal nicht geben – die Börse jauchzt! Hoch solln die Kurse leben! Nur was bin ich? ICH war doch der Erfinder! Agenda 2010 - das ist MEIN Baby doch! Hartz IV, Irakkrieg, Rentenschmu nicht minder – ich fall grad in ein Selbstwahrnehmungsloch … Beim Bund war ich am Ende fast Feldwebel. Als Mann hab ich wie alle einen Hebel, allein – nicht vorn, wie der normale Macker, nur hinten, weil: ICH BIN EIN NÜSSEKNACKER! Geräusch von einem Schlüssel im Schloss Ein Schlüssel dreht im Schlosstürschloss, Besuch erhält der Bundesboss. Rot ist der Mantel, weiß der Bart: Soziale Demokratenart. „Hey Alter“, sagt der Rote, „Fang zu reden an. Wird eh noch lang. Stiehl uns die Zeit nicht und die Gans, sei, Fuchs, der rechte Phrasenglanz!“ Hoho, das hätt ich glatt verpennt! Frank Walter zu dem Mikro rennt: Lieber Bürger, liebe *In, merkt ihr auch, wie froh ich bin? Es ist Weihnachten: Ich sprech PFEFFERKUCHEN - GROSSES BLECH! Und wie immer fragt ihr euch: Wie kommt einer auf so Zeug? Heut an diesem schönen Ort sag ich euch das Lösungswort: PRÄSIDIALAMT! So viel Freud kommt nur von der Teamarbeit. Die Politik, die keiner will, rührt an für mich ein Dr. Phil. Ein Pfarrer schmeißt die Butter rein, ein Volkswirt darf die Zahlen streun. Die Nüsse tu ich selber knacken, ein Informatikdoktor muss sie hacken. Corona gibt die Angstaromen, die Wissenschaft hilft mit Atomen, ein Dichter lügt die Armen reich, ein Psychologe knetet weich, der Koch schiebt rein, der Ofen bäckt und meine Elke holt den Sekt. Hey, so geht Weihnachtsbäckerei! So easy jedes Fest vorbei und jede Chance. Und jedes Leben. Drauf lasst uns froh die Gläser heben!
gedruckt in: Ossietzky Nr. 25/2021
November 2021
Die Verkennbare
Nach einem Jahr Pause hat die Frankfurter Buchmesse wieder stattgefunden. Hat sie? Klar, stand in der Zeitung. In der, wo Redakteurinnen ihre Artikel im Bett des Chefredakteurs schreiben müssen? In ALLEN Zeitungen stands, du Missbrauchsopfer! Die Buchmesse: Wo die ganze Welt in 20 Hallen über Bücher redet, die sie nicht gelesen hat? Nun, der Hallen waren es diesmal DREI. Was weiß denn ich, vielleicht ist die Welt kleiner geworden. Himmel, weiß echt KEINER, ob die Buchmesse stattgefunden hat? Wir fragen eins, das dagewesen sein müsste, wenn. Wir fragen das Buch:
Ja gut, ich war da. Sonst weiß ich nicht. Samstag Morgen um elf fegten die Steppenhexen über die Agora. Das Lesezelt war ein Sehfehler: Seine Buntheit hat sich mir in den vergangen Jahren so ins Hirn gebrannt, dass es wieder vor mir stand. Obwohl es eingespart wurde. Wie der komplette Hörbuchstand. Wie die Shuttles, mit denen ich so gerne gefahren bin. Wie die Computer für Journalisten. Wie die Antiquare. Wie die Duftöl- und Räucherstäbchenstände. Wie die … okay, ich hör auf. Schneller geht, was da war: Politiker, Polizei, Populisten- und Naziverlage, Poplig Rileischen oder wie das Gezappel heißt. Pop, Traian, der Edelparkett-Verleger aus Ludwigsburg, konnte nicht kommen wegen Corona kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag. Ungefähr siebentausend weitere Verleger fehlten auch. Frag mich aber nicht, WEM. Mir nicht, hätt ich fast gesagt.
Es war fürchterlich, was immer es genau war. Hinter dem Messezaun wurde Frankfurt gesichtet, aber zu mir in eine Lesung durfte keiner, es sei denn, er hätte einen Dateneingabewettbewerb gewonnen und den Hauptgewinn, ein Elektroticket, nicht anschließend an das diesjährige Ehrengastland Datanirwana verloren. Ich hab mich verlassen gefühlt. Stand nachts frierend auf meinem Bord und hab mich gefreut, wenn morgens die Standbeleuchtung anging. Hab keinen meiner Nichtleser wiedererkannt, weil alle maskiert an mir vorbeiliefen. Nicht mal den Umsonstkaffee am taz-Stand gab es, für den die Leute immer so lange angestanden sind, dass sie fünf Seiten von mir aus dem Lautsprecher der benachbarten Leseinsel der unabhängigen Verlage mitanhören mussten. Die fünf Seiten ihres Nichtleserjahrs!
Einen, der praktisch immer liest, hab ich gehört von meiner Insel aus: den Dielmann, Axel, fröhlichen Bücherdealer aus dem Frankfurter Süden. Das lässt sich auch nicht vermeiden bei der Laune, die der aus seinem protzigen Verlagschalet pustet, aus einem Organ, das Wert darauf legt, kein Verhältnis mit seiner Körpergröße zu unterhalten. Mir ist wohler, wenn gelacht wird. Geradezu wohlig wird mir, wenn ich gekauft werde. Am allerhochwohlsten ergeht es mir aber, wenn eine meinetwegen schnapsrote Nase in meinen Seiten steckt und wenn dann aus verständnisvollen Augen Tränen der Seele oder des Zwerchfells auf mich hernieder tropfen. Dann bin ich, wozu ich tauge. Dann tue ich, was ich kann. Dann lebe ich und bin kein Gerücht mehr und keine Geschäftsidee unbelesener Vertriebsmenschen.
Zuletzt treffe ich Nicely, Catherine, den Büchervulkan aus Berlin Wilmersdorf, und weiß nach drei Sätzen von hinter deren Maske: Jawoll! Das, was die Frankfurter Buchmesse wirklich ist, hat stattgefunden. Du sollst deine Mütter und Väter ehren, knirsche ich durch meinen eingeschweißten Deckel, auf dass es dir wohl ergehe und du noch viele Nichtleser überlebst. Ehre sei ergo den Verlegenden!
Oktober 2021
Der Wahlversager
Die Bundestagswahl ist geschafft. Alle Kanäle quellen von Siegerbildsequenzen über. Die Auswahl an Koalitionen ist Schwindel erregend im doppelten Wortsinn. Beim Zappen treffe ich den Wähler mutterseelenallein vor einer Kamera. Er soll zum Wahlausgang Stellung nehmen. Er nimmt sie:
Der heutige Wahlabend ist ein schwarzer Abend für mich. Also dunkel – nicht schwarz in dem Sinne. Meine Niederlage gilt es unumwunden einzugestehen. Das gebietet die Demut. Ich habe die Wahl verloren, gar keine Frage.
Sechzehn Jahre des Werbens um meine Einsicht waren umsonst. Ich habe die Bundesregierung nicht verstanden. Und das, obwohl Mutti extra langsam mit mir gesprochen und ihr Ablöser sie an Gedankentempo noch untertroffen hat. In der Folge bin ich hoffnungs- und führerlos dem Treiben unbekannter Mächte ausgeliefert. Es ist wie das Ende des Schwarzweiß-Fernsehens, an das ich mich noch traumatisch erinnere: Lauter bunte Farben brechen über das Land herein, paaren sich am hellen Tage miteinander. Als hätte es ein 1957 mit absoluter Mehrheit für die CDU/CSU nie gegeben.
Ich habe halt keine Ahnung von Politik. Und das hat die CDU/CSU unnachsichtig bestraft mit dem Rückzug von ihrer Macht über mich. Zwar redet sie mir noch gut zu, behauptet, am Brunnen vor dem Tore da stehe ein Lindner und träume für mich einen süßen Traum von Jamaica. Aber den verdiene ich nicht. Ich habe einen glasklaren Regierungsauftrag erteilt, und zwar an die Geldwäscherei Scholz & Warburg in Hamburg, Zweigstelle Berlin. Wer so was macht, hat das Vertrauen der CDU auf Jahrzehnte verspielt und keinerlei Anspruch mehr auf ein Bankkonto bei irgendeiner Deutschen Bank.
Auch das Lob dafür, dass ich die Linke halbiert habe, verdiene ich nicht. Denn meine linken Leihstimmen für SPD und Grüne haben der CDU erst den Todesstoß versetzt. Und das Allerperfideste an mir bei meiner Leihstimmenkampagne war: Die erwartbare Politik einer neuen Rotgrün geführten Bundesregierung (mit Hepatitis L) wird den Stimmenanteil der Linken bei der nächsten Bundestagswahl verfünffachen! Abgesehen davon, dass die Linke ab sofort vier Jahre lang die Oppositionsrolle alleine spielen darf, ohne von einer anderen Partei darin gestört zu werden.
Fazit: Ein Wähler, der sich derart gravierende Wahlschnitzer erlaubt, hat das Recht auf die politische Mitwirkung der Parteien an seinem Wahlzirkus verwirkt und wird zu vier Jahren politischer Untätigkeit verurteilt.
gedruckt in Ausgabe 20/2021 der Zeitschrift Ossietzky
September 2021
Die Einzigartige
Seit 18 Jahren lebe ich in Maintal bei Frankfurt. Wer jetzt fragt „welches Frankfurt?“, den lachen wir aber mal alle aus, ODER? Nee, MAIN! Mit 18 Jahren ist der Maintaler Persönlichkeitsanteil von mir volljährig. Hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht über mich. Und sagt: Mir bleibe hier wohne (falls die Frau einverstanden ist). Aber was sagt eigentlich Maintal dazu?
Vorneweg: Mit so einem muss ich Hochdeutsch sprechen. Sonst versteht der mich nicht. Insofern verstell ich mich von vorneherein, wenn ich mit so einem red. Der kommt hier an, hat vorher – jetzt verrat ich euch was – in Offenbach gewohnt, und denkt, er könnte hier dazugehören. Und hat noch gar nicht verraten: Welches Maintal? Vier Stück gibts: Hochstadt, Dörnigheim, Wachenbuchen, Bischofsheim. Das Letzte, brummt er. Na da gehts gleich weiter: Welches Bischofsheim? Rechts oder links vom Kreuzstein? Proletariat oder Kleinbürgertum? Ja, bei uns gibts die noch: Klassen. Natürlich gibt es die überall noch, aber bei uns wohnen zwei davon im selben Ort, im selben Ortsteil sogar. Wo also, der Herr? Aha, links vom Kreuzstein. Ja, wo ist denn dann Ihr Vorgarten? Hier fängt der Mensch beim Vorgartentor an und geht exakt bis zum SUV-Auspuff. Wie, Sie haben kein SUV? Moment mal, kein Auto? Aber Messer und Gabel haben Sie schon mal gesehen? Sie fahren Fahrrad, alles klar. Dann nehmen Sie sich bestimmt immer Ihre Vorfahrt und fragen gar nicht, wie der Autofahrer das ahnen soll. Sechs oder sieben Maintaler haben schon versucht ihn totzufahren. Zwei oder drei haben sich dafür entschuldigt, also bitte. Wie soll aus so einem ein Maintaler werden? Auf dem Bischofsheimer Friedhof vielleicht. Der wird demnächst erweitert, hat es den Anschein. Weil neben dem der Wald abgeholzt wurde. Wie ein Wald sieht übrigens der ganze Maintaler Wald nicht mehr aus. Da radelt der Mann hastig durch bis Enkheim, dort stehen noch Bäume. Dort ist er in Frankfurt, wo er hingehört. Wo er beinahe wohnt, wenn er mit dem Frankfurter Kulturamt spricht. „Einen Kilometer vor der Frankfurter Stadtgrenze“ lebe er, erzählt er denen. Zur „LiteraturSzene Hanau“ gehört er aber auch, neuerdings, im Internet. Also was jetzt? Hic Rhodus, hic salta! In Berlin, wo er ursprünglich herkommt, seien das, was hier Städte sind, Stadtteile, meint er. Das sei doch nicht so wichtig. Falsch. Du bist nicht wichtig. Hier ist man froh, dass man nicht anderswo lebt. Hier ist man stolz, von hier zu sein. Für die Frankfurter Eintracht darf man hier sein, ja, aber nur mit Friedhelm Funkel als Trainer. Der Klassenerhalt als Lebensaufgabe. Und wenn Bayern oder Dortmund spielen, bitte das „Schwarz weiß wie Schnee“ nur flüstern.
Ihm gefalle es hier. Er wolle nirgendwo anders wohnen.
Na also, geht doch. Vielleicht wird am Ende ja noch ein Mensch draus. Aber jetzt erst mal sechs Stunden vors Hochstädter Rathaus gestellt – bei Sonne, Regen, Hagel egal – und auf eine städtische Dienstleistung gewartet. Nach sechs Stunden dann ein Termin für nächste Woche und eine Woche auf die eventuelle Dienstleistung gefreut. Jawohl, so erwartet es die Stadt von ihren Bürgern. Wie, das gibts in ganz Deutschland nicht noch mal. Gratulation. Der Groschen fällt. So langsam kapiert es der Mann.
August 2021
Die Homothematische
Einmal im Jahr fahre ich nach Berlin. Der Grund ist: Ich wurde dort geboren. Zwanzig Jahre lang. Zwanzig Kilometer näher an Frankfurt liegt Paris, aber dort wurde ich leider nicht geboren. Also Berlin. Für mich kommt Berlin wie Weihnachten: alle Jahre wieder. Warum ich mit Stolz ein Fremder bin in der Stadt, mag verstehen, wer ihr mal zuhört:
Na klar, det eijene Nest beschmutzen. Det kanner. Wenn er ooch sonst nischt druffhat, weil: Sonst würd er ja HIER leben. Wo die Kreativen leben aus dem einfachen Grund: Die ham jehört, det hier die Kreativen leben, und jewusst: DA werd ick ooch kreativ, weil: Det färbt ab uff mich. Aber ick hörma janz schnell mit Berlinern uff, weil: Das tut man hier nicht. Hier wird English spoken. In Frankfurt reden die Leute Englisch, die kein Deutsch können. Hier redet der erste, der den Mund aufmacht, Englisch und alle hören zu, weil sie überlegen müssen, wie ihre Meinung auf Englisch geht. Das bildet. Zuerst mal die Meinung. Du hörst denen zu, die als erste reden. Und das werden ja wohl Erfahrungs gemäß die Schlauesten sein, ODER?
Als erste morgens aufstehen tun allerdings andere. Das Café, in dem du schreibst, hat eine Stunde später aufgemacht als dransteht. Und mit halber Besetzung. Die Bedienung, die gekommen ist, hat weniger erlebt letzte Nacht als die Kollegin, die nicht gekommen ist, obwohl sie es hätte sollen. Erzählt die Gekommene mit feierlicher Stimme einem Gast, der mitgefeiert hat gestern, weshalb die Bedienung mit ihm als einzigem spricht, auf Englisch natürlich, während sie die übrigen Gäste (wie dich) als Tote betrachtet, die sich in die postmoderne Situation ihres Cafés verlaufen haben. Mitleid mischt sich in ihre Stimme, der Gast hat das Wichtige nicht mitgekriegt gestern, weshalb es ihm in ekelbitterem Tonfall erzählend erklärt wird. Immer noch besser als Kunden zu bedienen, die man nicht kennt und die einen auf Deutsch anschweigen.
Ich weiß, was du jetzt denkst: Die Bedienung ist gestern zu Recht übriggelieben. Schäm dich. Wie altmodisch du denkst. Als könnte es einer Frau darum gehen, einem anderen Gender zu gefallen oder mehreren. Das interessiert keine*n mehr. Das ist das alte Konzept von Ich guck dich an und hör dir zu, weil ich nichts aussehe und nichts reden kann. Schau dich bitte mal um. Das sind alles Luxuskörper mit premium proportions & propositions. Von denen hat keine*r Zeit irgendwem zuzuhören oder -zugucken. Da gehts um performance. Um presence. Um pride. Das sind Statements.
Der Tote auf dem Bürgersteig liegt neben zwei frischen Bananen. Statement: Ich lebe noch, auch wenn mein Geruch die Verwesung von so manchem bereits beinhaltet. Die junge hübsche Frau auf Streichholzbeinen wie eine Auschwitz-Überlebende. Statement: Ich interessiere keinen und weiß es. Der Afrodeutsche, der in den Achtzigern Star des Bundesliga-III-Aufsteigers Viktoria war und den heute keiner mehr kennt in dem Verein. Statement: Stirb rechtzeitig.
Hinterbleiben werde ich, an welchem Grab auch immer. Junge Israelis empfehlen mich im Fernsehen. Wenn sogar meine Opfer mich lieben, muss ich nett sein. Denkste. Weeßte nur nich. Sollste denken und machste. In mir immer nur das Neueste. Das gilt auch für Meinungen. Wurst oder Burger? Du hast die freie Wahl. Nimm die vegetarischen Varianten dazu und du hast das volle Spektrum. An der Topographie des Grauens gibts die „Mauerwurst“. Am Holocaustmahnmal demnächst den „Holoburger“. Ja, Freunde, das bin ich! Ein Orakel ohne Mitteilung. Eine Sphinx mit zwei Hinterköpfen. Allegorisch betrachtet bin ich ein Kadaver. Mein zweiter Körper sind Maden, die mich lückenlos bedecken. Irgendwann bin ich weg, aufgebraucht. Dann werden die Maden wissen, was sie ohne mich sind: kein Kolumnenthema.
gedruckt in Ausgabe 2/2021 der Zeitschrift BAWÜLON
Juli 2021
Die Gewandelte
Der Klimawandel ist das größte Problem, das wir haben. Sagt meine Frau und klingt wie eine Schuhverkäuferin. Ich will ja auch kein größeres. Ich bin zufrieden mit dem Klimawandel. Eine Lösung weiß ich nicht und ins Schwitzen bringt mich das Problem auch. Ich finds nur nicht mein größtes, sage ich. Was ist denn dein größtes? fragt sie. Du bist das, sage ich. Oder genauer: unsere Ehe. Da hebt auf einmal – aber das glaubt mir keiner – das Klima persönlich an und spricht zu mir Folgendes:
Ich bin das Klima, dein Problem. Du sollst keine anderen Probleme haben neben mir. Du brauchst auch keine anderen. Ich bin alles Schwierige in einem. Darum bin ich auch deine Frau. Mit wem bist du auf Gedeih und Verderb liiert? Mit wem teilst du dein Haus und dein Leben? … Ja doch, du hast kein Haus. Deine Mietwohnung halt. Ein Leben wirst du ja vielleicht noch haben. Sei nicht spitzfindig, wenn es ums Große und Ganze geht. … Wer trägt dich? Wer erträgt deine Launen, ja, sogar deine toxischen Absonderungen, so lange sie irgendwie noch erträglich sind? Wer bereitet dein Haus … lass mich in Ruhe mit deiner Mietwohnung! … wer bereitet das gemeinsame Haus zu einem Treibhaus, in dem Mensch, Tier und Pflanze gedeihen? Denn der Treibhauseffekt ist ursprünglich ein natürlicher, ja, der Grund dafür, dass es auf dem Planeten Ehe Leben gibt.
Ich bins, sagt das Klima, alias meine Frau. All das bin ich. Und irgendwann hast du bemerkt: Ich verändere mich. Ich bin nicht mehr so brav, so planbar, so angepasst, wie du es von mir erwartetest. Es kam zu Extremereignissen zwischen mir und dir. Du lechzestest nach einem kühlen Tropfen, da ich meine Sonne auf dich herniederbrennen ließ. Du wurdest nass wie ein Paddel, da dich meine Wasser überfluteten. Du fragtest dich: Warum ist sie auf einmal so anders zu mir? Ist das ein natürlicher Vorgang, oder ist er Menschen gemacht? Dreimal darfst du raten, und welcher Mensch die Ursache davon ist, verrate ich dir auch. Mal ehrlich: Im Grunde hast du an meiner Veränderung erst gemerkt, dass ich noch da bin. Ich war so selbstverständlich gut zu dir, dass du mich einfach vergessen hast. Du bist in den Süden gefahren, hast anderen Klimata schöne Augen gemacht. Und über mich hast du dich nur beschwert. Angeblich hätten deine Vorfahren mich dir ausgesucht. Du hättest eine Wärmere genommen, wärest du bloß gefragt worden. Aber ich kann auch heißer, wie du jetzt weißt. Du pfeifst aus der letzten Bronchie, die noch arbeitet, lässt die Rollläden knallen, hockst im Finstern. Und denkst nostalgisch an unseren Sex bei Wind und Regen, mit Gänsehautgarantie. Hast du dich jemals gefragt, warum die weltweit größte Expertin für mich ein schwedischer Teenager ist? Ich wollte als Teenager eine Schwedin sein und bin ständig da hingefahren. Na, macht es klick?
Und jetzt verrate ich dir mal, warum ich dich wollte. Mich rettet nur einer mit Ideen, mit Einfällen. So einer bist du, dachte ich. Beziehungsweise musst du jetzt werden, denke ich. Ich will von dir zu jedem Geburtstag einen Strauß neue Windrädchen! Ich will statt in deinem SUV auf deiner Lenkstange mitfahren. Ich will tote Flugzeuge zum Frühstück, einen plastikfreien Ozean zu Mittag und Abendessen will ich im Speisesaal unseres Genossenschaftshauses mit Solardach! Und deine destruktiven Emissionen kannst du stecken lassen, die erlaube ich dir einfach nicht mehr. Sonst sitzt du ganz schnell mit Elon Musk im Raumschiff und darfst dir eine Neue suchen zum Vergiften.
gedruckt u.a. in neues deutschland, Ausgabe vom 9.8.2021
Juni 2021
Der Salatgeflüchtete
Bei meinem Sohn liegen die Zahnhälse blank. Und bei mir die Nerven, weil: Der Zahnarzt traut sich nicht, meinem Sohn die Ursache für Zahnfleischschwund zu verraten. Mir glaubt der Sohn eh nichts. Also wer sagt es ihm? Ich habe Kolumbus gebeten. Der kennt sich aus. Und den Namen könnte mein Sohn schon mal gehört haben.
Junge, hör mir gut zu. Falls ich etwas undeutlich spreche – ich habe keinen einzelnen Zahn mehr. Womit wir schon beim Thema sind: Zahnfleischschwund. Ich hatte ihn. Und ich kenne seine Ursache: Vitaminmangel. Okay, wir haben noch „Salatmangel“ gesagt. Und kriegten davon die „Seemannskrankheit“. Ihr sagt Skorbut. Aber wir haben die Krankheit erfunden – vielleicht das Einzige, was wir gefunden haben. Du sagst Amerika? Du nennst uns Entdecker und Eroberer? Dann hör mir mal gut zu, du Antigrünschnabel.
In Wahrheit wollten wir damals drei Dinge: lange aufbleiben, kein Tageslicht und keinen Salat. Wir waren jung, du verstehst. Salat war der Hauptfeind, weil: Er schmeckt einfach nicht. Wir wollten dahin, wo Salat nicht wächst. Also fuhren wir zur See. Was allerdings fünftausend Jahre lang bedeutet hatte: Du fährst an den Küsten entlang. Irgendwann kommt der nächste Hafen, da legst du an – und hast wieder den Salat. Und noch was Viertes, was wir nicht mochten: Frauen. Gegen die hatten wir quasi die Ableitung einer Abneigung: Frauen sind gegen langes Aufbleiben. Frauen lassen Tageslicht in dein Zimmer. Und Frauen bereiten Salate zu. Häfen waren also gefährliche Orte für uns, dort lebten Frauen. Auf unseren Schiffen dagegen nur Jungs. Jahrhunderte lang hatten wir Seeleute den Ruf, die schlimmsten Pickupper und Flachleger zu sein – alles Quatsch. Die Frauen haben auf uns gewartet, weil sie uns die drei Sachen beibringen konnten. Den anderen Männern hatten sie es ja schon.
Irgendwann war es genug. Wir sind auf den Atlantik ausgewichen. Da gabs keine Häfen und somit endgültig keinen Salat mehr. Es war das Paradies für richtige Jungs. Du bist runter in deine Kajüte, der Rollladen vor dem Bullauge war immer unten (rund war der – hätte sich gar nicht aufwickeln lassen) und keiner ist gekommen, bis du alle Kills gemacht hattest, die du wolltest in jener Nacht oder an jenem Tag, den Unterschied gabs nicht mehr. Kartoffelchips waren noch nicht erfunden – Problem! Zu denen fehlte noch eine Zutat. Aber russische Eier geht auch („Ei des Kolumbus“) oder altes Brot, und wenn das alle ist: Zwieback. Wir wussten natürlich: Die Zutat muss schleunigst gefunden werden. Ohne Kartoffelchips geht jedes Paradies zum Teufel.
Leider kam dann der unglückselige Tag – und an ihm dieses Land in Sicht. Ich spreche seinen Namen nicht aus, mir ist schon schlecht, wenn ich an die Optik zurückdenke: Strand, Steine und oben drauf – ganz viel Salat. Die Völker, die wir kennenlernen mussten, waren aufs Engste mit dem Salat und jeglichem Grünzeug verbunden, was ehrlich gesagt so den Hass in uns erzeugt hat, dass wir sie später ausgerottet haben. Wenigstens eine braune Sache erhielten wir von ihnen: die Kartoffel. Trotzdem. Sieh dich doch mal um auf der Welt. Was hat unsere damalige Salatflucht im welthistorischen Sinne gebracht? Imperialismus, Globalisierung, Völkermord, Sklavenhandel, die Börse (unsere Expeditionen waren die ersten Risikoanlagen), Rassismus, Spanisch als zweite Fremdsprache (als ob Deutsch nicht schon fies genug wär) … sag mir, wann ich aufhören soll. Ach ja – und Zahnausfall. Mir hats den gebracht.
In fünfhundert Jahren, glaub mir, hast du Zeit für so manchen selbstkritischen Gedanken. Dein Vater hat schon den Richtigen beauftragt. Ich sage es dir im Guten, mein Junge: Iss Salat. Geh schlafen, wenn du müde bist. Und zieh, wenn du aufstehst, den Rollladen hoch. Und eine Frau ist überhaupt das Beste. Mach es nicht wie wir damals. Am Ende hast du keine Zähne mehr, aber irgendwas entdeckt und damit fünfhundert Jahre Elend über die Menschheit gebracht.
gedruckt in Ausgabe 2/2021 der Zeitschrift BAWÜLON
Mai 2021
Die Exbesessenen
Ich habe mir heute Handschuhe bestellt. Zum 1. M a i – das muss man sich mal vorstellen. Aber ich habe keine mehr. Warum nicht? Sag ich nicht. Ist mir peinlich. Frag meine letzten Exhandschuhe, die wissen alles über das Thema:
Der Mann kauft sich uns, wie andere Wildschweinfutter kaufen. Dann ab ins Freie und uns irgendwo liegen lassen. Wer zwei Hemden hat, gebe dem, der keines hat. Auf Handschuhe angewendet hast du mit der Devise nie Handschuhe. Es ist aber noch schlimmer: Er verliert uns immer beide. Das liegt an dem, wozu er uns benutzt: für den Arsch. Er sagt sich: So kalt, dass ich Handschuhe brauche, ist es heute nicht. Dann packt er uns trotzdem in den Rucksack und auf der ersten Bank, wo er sich ausruhen muss, findet er es plötzlich kalt. Und zwar für den Arsch. Er legt uns nebeneinander auf die Bank und setzt sich auf uns drauf. Das gefällt ihm. Na ja, wir sind eben kuschelig. Und er hat nicht mehr die Eier und den Harntrakt wie ein Junger. So weit verstehen wir ihn. Außerdem findet er es entspannend, dass er in der Position immer weiß, was zu tun ist, nämlich: denken, dass er die Handschuhe nicht vergessen darf. Das hält er im Vergleich zu seinen hochkomplexen Gedanken, auf deren Komplexität er nur selten Bock hat, für leicht. „Fokussierend“ nennt er es, an uns zu denken und an den Moment, in dem er aufstehen und uns nicht auf der Parkbank zurücklassen wird. Wie er jedes Mal wieder glaubt . . .
Wenn wir dazwischen mal was Positives sagen dürfen: Wir haben immer eine tolle Aussicht, sobald er weg ist. Die Parkbänke, die der Mann findet, sind es wert, wie er mal sagte, an sie und an den Ausblick von ihnen zu denken und zu wissen: Da liegen jetzt Handschuhe von mir. Denkste: lagen mal. Er hat schon manchen Weg wieder zurück gemacht zu einer Bank, auf der er unsereinen (beziehungsweise -zwei) hat liegen lassen, und erfahren müssen: Wir sind nachtragend, und nicht etwa, wie er es gerne hätte: dass wir uns ihm hinterhertragen würden. Sondern es macht was mit uns, vergessen zu werden. Es verletzt. Wir denken dann: Finderfreude ist treuer als Käuferstolz. Und gehen mit jedem mit, der uns findet, auch wenn das grundsätzlich fremde Männer sind. Okay, auf Händen zu stecken fühlt sich am Anfang seltsam an, in aller Öffentlichkeit, statt unter einem Gesäß verborgen zu ruhen. Aber er wollte es ja nicht anders.
Ich weiß, dass er sich manchmal vorgestellt hat, wir würden seinen Hintern in Wahrheit zärtlich anfassen. So hat er uns immer hingelegt: die Daumen nach innen. Wie manche Frauenhände das beim Akt eben so schön machen. Ich persönlich glaube, es war dieser unterkomplexe Gedanke, der ihn regelmäßig hat vergessen lassen, dass er uns nicht vergessen darf. Euphorisiert wird er gewesen sein, da ist er immer gefährdet. Das lässt ihn augenblicklich an das Gute im Leben glauben, zu dem Kälte oder der Verlust wertvoller Gegenstände nicht mehr recht passen wollen.
Moment mal, hast du grad „ich“ gesagt? Wir sind doch „wir“.
Na ja. Ich vermisse ihn halt. Irgendwo.
Na ich doch auch.
April 2021
Artikel ausverkauft
Länger hatte man nichts mehr gehört von ihr. Überraschend war sie dann nach den ersten Lockerungen doch wieder zu haben. Wie lange noch, ungefähr? Die Würde des Menschen weiß es selber nicht:
Hände weg! Ich bin unantastbar, schon vergessen? Nimm mal ganz schnell deine Fettfinger aus meiner Lockenpracht! Ich wachse auf den Menschen nicht zum Spaß. Kant sprach vom „unvergleichlichen Wert“ des Individuums: Damit war ich gemeint. Ohne mich würdet ihr alle aussehen wie Gianni Infantino und Jeff Bezos. Mit mir wärs dann in jeder Beziehung aus. Okay, die letzten Monate gabs mich mal nicht. Da hatte man mich vergessen, mich weggesperrt. Aber wie Chris Hemsworth oder Shakira wollten die Menschen dann auch nicht aussehen. Ja Kinder, ich muss regelmäßig geschnitten, gepflegt, ab und zu sogar mal gewaschen werden. Bloß gut, dass wir die Politik haben. Die hat mich kurz vor knapp doch noch wiederentdeckt. Ich bin jetzt wieder zu haben und du kannst mit etwas Kleingeld (und noch mal Kant) dafür sorgen, dass andere dich „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ behandeln. Dich nicht mit Haushaltsgeräten verwechseln wie Mobb oder Topfkratzer. Oder mit Asozialen. Früher nannte man diese Leute Penner:innen, weil deren Frisuren immer so verpennt aussehen. Wach auf, Mensch, und lass dir mich machen, solange es für mich noch Termine gibt!
Und sonst so? Wo gibts mich noch zu kaufen? Leider nicht bei der CDU/CSU, obwohl man da sonst alle recht günstig kriegt. Aber mich wollen sie nicht (außer als Werbemittel zu Öffnungs- und Wirtschaftszwecken). In Deutschland ist überhaupt schwierig. Vielleicht mal in dem einen Gesetz probieren, ich komm grad nicht auf den Namen. Da könnte ich – ganz vorne am Eingang – vielleicht noch rumstehen, falls sie mich nicht zwischenzeitig gestrichen haben. Oder Pandemie bedingt ausgesetzt wie meine Nachbarartikel.
Manche sagen, es gebe mich auch auf Gitterrosten über Abluftschächten, in Kaufhauseingängen, unter Brücken und so. Wo es warm und/oder trocken ist, würd ich mal nachgucken, da könnte ich liegen. Vereinzelt und massenhaft zugleich, wie alle Menschen heutzutage. Meinen Friseurtermin habe ich noch nicht erhalten. Die Körperpflege vernachlässige ich zwecks Konzentration auf mein Überleben. Also wie schon gesagt und wie es geschrieben steht: Ich bin unantastbar. Fass mich bloß nicht an!
Vielleicht noch mal in warmen und trockenen Ländern nach mir schauen, da, wo es Wüsten gibt oder ähnlich billige Wohngegenden. Vielleicht liege ich da irgendwo am Straßenrand, unter die Räuber gefallen, halb totgeschlagen. Sicher ist es aber nicht. Viele gingen an mir vorüber und guckten weg. Sie werden mich nicht bezeugen. Über den gegenüberliegenden Straßenrand kannst du sie alles fragen.
Der Text ist abgedruckt in Ausgabe 05/2021 der graswurzelrevolution.
März 2021
„Per Ursulam ad Astra“ (Seneca)
Die „offene Gesellschaft“ (Popper) erzeugt Vielfalt. Im Supermarktregal steht Qualität einträchtig neben Pfusch und akzeptiert es, unverkauft stehenzubleiben. Erzählt der Impfstoff von AstraZeneca:
Ich denke positiv über Krankheiten. Ich entspringe ja auch einer Liebesehe. Ein zweitklassiger Philosoph und ein erstklassiges Billigauto haben mich gezeugt. Meine Kindheit war glücklich. Ich musste nichts können, ich wurde einfach so geliebt, wegen meiner Billigkeit. Als ich auf den berühmten Mittagsmarkt von Brüssel kam, war BiontechPfizer zwanzig Mal teurer als ich. Für das Zeug sollte die EU exakt dasselbe latzen, um was der internationale Fonds Covax erfolglos bettelt, um damit die ganze Welt zu impfen: 27 Milliarden. (Und zwar Euro, für die Welt reichen Dollars.) Gesundheiten haben eben unterschiedliche Preise. Nordamerika wird aktuell fünfzig Mal schneller geimpft als Afrika. Europa dreißig Mal schneller. Südamerika immer noch zehn Mal schneller. Aber nicht traurig sein, Afrika. Ozeanien ist noch wertloser als du.
Mal Hand auf die Lunge, Leute: Gegen das Karnevalszeug aus Mainz bin ich Volkseigentum. Ich koste, seit die mit ihrem Preis siebzig Prozent runter gegangen sind, noch immer kein Siebtel von denen! Okay okay, ich kann nix. Ja gut. Aber was nützt dir der Lamborghini in der Garage vom Nachbar? Eigener Astra und basta. Du hast das Recht, die Welt durch eine Windschutzscheibe zu betrachten. Fahren sollen ruhig die Anderen. Warte nur ab, für die steht schon hinter irgend so einer Kurve der Straßenbaum und dann wars das mit der Ungerechtigkeit. „Nicht, lange zu leben, soll unsere Sorge sein, sondern hinreichend.“ (Seneca). Europas Geldbeutel reicht für einen Opel Astra und für mich nicht nur hin. Zurück auch noch reicht Uschis Eurobrieftasche für mich! Ich bin billig und krasser Weise lasse ich mich auch noch in Lizenz produzieren. Doch, für euch mache ich das.
Da muss aber dann auch mal Schluss sein. Was wollt ihr denn noch? Dass überall ausreichend Impfstoff produziert wird? Dass überall nur der wirksamste produziert wird? Dass alle Menschen, die es wollen, damit geimpft werden? Ja klar, das wäre dann Planwirtschaft. Vernunftterror wäre das. Könnte euch so passen, ihr triefnasigen Simulanten, dass wir unsere schöne Freiheit und Vielfalt auf dem Altar eurer langweiligen Gesundheit opfern! „Freiheit ist die Freiheit Verbrechen zu begehen, schlimme Dinge.“ Schon mal gehört? Ohne den Schluck Nietzsche aus Onkel Rumsfelds Feldflasche kriegt die Ursula von der „Leihen ist billiger als Heiraten AG“ ihre „Sir Popper‘s offene Kekstüte“ gar nicht runtergewürgt, ihr philosophischen Hilfsgourmets, ihr Gesundheits-Mantrafahrer! Und ich sag euch noch was: Lizenzen für mich vergebe ich bis zu dem Tag, an dem der letzte Qualitätsdealer vom Markt verschwunden ist. Nicht einen Tag länger. Und dann freu dich auf meine Preise! Ja was denkst du, so geht Marktwirtschaft. Oder hast du dich noch nie gefragt, warum das einzige Computer-Betriebssystem für Normalmenschen auf dieser Welt ein überteuertes Museum für dreißig Jahre alte Programmierfehler ist?
Februar 2021
Das Verkannte
Diskriminierung gibt es auch im Haushalt. Auf Tuchfühlung gehen Menschen und Dinge selektiver, als man meinen sollte. Ein Geschirrtuch packt aus:
Schon mal die Reihenfolge: Das Badetuch kommt immer zuerst. Ungeduscht machen die beiden in der Küche keinen Handschlag. Und gekuschelt wird da noch, wenn die längst trocken sind, einfach so. Weil das Hochwohlriechende ja soo flauschig ist.
Dann die Zuständigkeiten. Ich bin ehrlich: Mit der Chefin hätte ich auch gerne mal Nacktkontakt. Genau genommen kenn ich nicht mal ihre Hände. Die halten mich, okay. Aber getrocknet wollen sie von mir nicht werden. Dafür gibts das „Händehandtuch“ (haben die Brüder Grimm das Wort wirklich kommen sehen??). Ich trockne immer nur Gebrauchsgegenstände, an hohen Feiertagen der Nachlässigkeit meiner Chefin vielleicht mal ne Arbeitsfläche. Kurz drüber – und weggehängt. Wobei dann gleich das Händehandtuch aufheult von wegen „da kann man jetzt keine Gläser mehr trocknen mit“. Klugscheißer. Wenn die Chefin wüsste, was der Mann mit dir Dreckding anstellt: Schuh drauf und den Boden gewischmobbt. Aus wärs da mit den zwei „Händen“ im Handtuchnamen, aber sowas von!
Womit wir bei den Beziehungen sind. Ich bin im Grunde die Mitte des Ehe-Kriegsschauplatzes. Ja kuckma: Der Mann macht doch im Haushalt nichts außer das mit mir. Das hat er „übernommen“, damit die schweren Sachen an der Chefin hängen bleiben. Der nimmt mich vom Haken wie die EU den Fisch, den sie vor Afrika klaut: platzend vor Lachen, wie billig dass er wegkommt. Und danach kuckma genau hin, was er macht. Er nimmt trockenes Geschirr aus einer Maschine und stellt es an großenteils sinnfreien Plätzen der Küche wieder ab. Braucht er dazu ein Trockentuch?, frage ich. Vielleicht um sich die Augen zu verbinden wie beim Topfschlagen, damit sicher ist, dass nicht aus Versehen ein Teller mal am richtigen Platz landet. Aber sonst? Der hängt sich mich über den Unterarm, sag ich dir, wie so ein bekloppter Servierkellner, den er vielleicht bei der Sinnlosigkeits-Olympiade in der Disziplin Handtücher missbrauchen besiegen will. Rum schmeißen tut er mich, wenn ihm langweilig ist. Fehlt noch, dass er sich einen Korb an die Küchenwand schraubt. Der Mann ist doch total überfordert mit sinnvoller Hausarbeit.
Ich weiß nicht, wo die Chefin ihre Augen hatte, als sie den hat Probe trocknen lassen. Aber so isses. Frauen wählen ihr Unglück, auch wenn das Glück direkt am Nachbarhaken hängt.
Januar 2021
Das Reichenreich
Vor 150 Jahren war Reichsgründung. WASgründung?? Na Deutschland. Jawohl, älter ist es nicht. Unser „liebes liebes liebes“ (Bernd Höcke) D. Es kann sich selbst nicht mehr ab, wie wir erfahren (muss an den hundertfünfzig Jahren liegen . . .):
„Einig Vaterland“, wenn ich das schon höre! Meine Mutter heißt Frankreich. Ich bin ein Kriegsbastard, „einig“ an mir ist der Rudelbums, bei dem ich gezeugt wurde: Alle süddeutschen Fürsten hat der Bismarck mit ran gelassen. Raus kam ich, am 18. Januar 1871 im gespiegelten Kreißsaal von Versailles. Für Wilhelm gabs die Kaiserkrone. Meine Schwester, die Pariser Commune – erstes kommunistisches Gemeinwesen der Moderne – wurde von Muttern eigenhändig erwürgt. Wilhelm stand dabei und klatschte. Mutters Klunkern hat die Kurfürstendamm-AG gekriegt, Hauptaktionär: Otto von Bismarck. Den Sachsenwald legte man ihm oben drauf, Waldbesitz macht konservativ. Mit mir gings ab in die Gründerjahre und 1873 gleich mal in den „Gründerkrach“, erste deutsche Finanzkrise. Kein Land ohne Traditionen. Weltkriege haben sich da auch bald angeboten. Gezeugt wurde ich, damit die Nachbarn mein Kinderzimmer nicht kriegen (Bismarcks Version), und weil das so schön geklappt hat, ist der nächste Wilhelm in die Nachbar-Kinderzimmer einmarschiert. Gut, die Welt sollte auch „genesen“ an mir, ich war quasi die Weltgesundheitsorganisation damals. Als das beim Ersten Mal schief ging, gabs den Zweiten WK hinterher. Ergebnis: zwei Kapitulationen, zwei Mal bedingungslos. Tja.
Ich wurde gevierteilt. Na und? Was ist schlimm daran? Ich war ein Neununddreißigteilepuzzle noch im Jahr 1864. Vor 1800 gabs zirka tausend Teile von mir! Existiert hab ich vielleicht mal zwischen dem ersten Heinrich und dem zweiten Friedrich, als Thron. Das war im Hochmittelalter. Ansonsten nichts als Schlösser, Burgen, Kapitelsäle, Ratszimmer, sogar ein Wirtshaus: in der Bauernrepublik Dittmarschen. Kennen gelernt haben sich die Deutschen auf den Schlachtfeldern, beim Gegenseitig totschlagen.
Wo war ich stehen geblieben? Ach 1945. Da gabs mich vier Mal. Aber Adenauer wollte drei Teile für sich. Also kam die BRD. Kohl wollte den vierten Teil noch oben drauf. Blühen sollte ich – damit er seinen Samen los wird. Nee Kinder, ich hab so was von genug! Ich will nicht mehr. Staaten sind nichts für die Ewigkeit. Völker kommen auch und gehen wieder. Das einzige unsterbliche Volk sind die Juden, deren Vorfahren ist das unter Eid zugesagt worden. Aber nicht mir. Meine Empfehlung: Erlaubt nicht die Beihilfe zum Suizid, den soll doch keine/r machen müssen. Erlaubt stattdessen den Suizid von Staaten! Liebe liebe Deutsche, es geht euch gleich besser ohne mich. Glaubts mers.
Dezember 2020
Der Abgesagte
Alle reden von Weihnachten – was ist das? Ich kenn nur „Weihnachtsmarkt“. Spaß. Aber der ist verboten. Also der Weihnachtsmarkt. Ist das durchdacht? Was ist mit Berufen, die ganzjährlich nur davon leben? Wie Weihnachtsmann, Glühweinkoch, Pelzmanteltaschendieb. Auch mancher Terrorist steht vor dem Nichts. Wir hören mal rein:
Ich fass es nicht. Ein ganzes Jahr Arbeit umsonst.
Im Februar als erstes mal die Finanzierung geklärt. Reiche religiöse Großfamilie? Gibts nicht so viele. Meine hieß irgendwas mit „Q“, Al Quandt oder so. Deutsche Namen, Bruder, ich sags dir. Aber ist nicht mehr wichtig. Im März die Weihnachtsmärkte brüderlich aufgeteilt. Im April den Laster gebucht. Im Mai ausgekundschaftet, weils da wärmer war. Das ungläubige Treiben kannst du auch auf Youtube gucken, Bruder, einfach mal statt „Hinrichtung“ eingeben: „Weihnachtsmarkt“. Im Juni Vorgespräche mit den wichtigen Medien. Ja Mann, die müssen jetzt auch drei Wochen Urlaub absagen und irgendwas Seriöses recherchieren. Die sind auch sauer.
Im Juli wurds dann richtig warm. Vor allem in meiner Hose, Bruder, so mollig, du verstehst mich schon. Hab ich da mal Plan B klargemacht: hundert Jungfrauen, das Upgrade. Gibts nur in meiner Moschee. Nee, falls was schief geht. Zum Beispiel die Großlimousine der Großfamilie fährt auf der Flucht gegen einen Brückenpfeiler. Oder der Staat erschießt mich lieber, als mich nach der Großfamilie zu fragen. Der Staat ist übrigens auch sauer. Angst macht CDU-Wähler. Was soll er jetzt nehmen? Das olle Virus hat schon selber Schiss, vor dem Impfstoff. Ich sag ja: null durchdacht das Ganze. Da klaffen Lücken. Da kann jeder kommen jetzt. Nimm einen Eierkopf, schreib „Querdenken“ drauf und die Merkel zittert wie Eskenlaub.
Okay, so schlecht sind die Quer-Jungs gar nicht. August bis Dezember: Querdenkerdemos. Eins haben die geheckt, Bruder: Geradeaus denken und Deutschland, das wird nix mehr. Ich sag ja: Deutschland braucht den Wumms.
November 2020
Der Fehlermelder
Ich wollte, ich wäre ein Kopierer. Immer würde sich wer um mich kümmern. Und nie wäre ich schuld. So stelle ich mir das Leben im Finanzamt …, ääh, im Paradies vor.
Wenn mich wer stresst, stresse ich zurück und sage Papierstau. Ab sofort geht es nur noch um mich. Mein inneres Wohlbefinden ist das neue Projekt. Habe ich noch weniger Bock auf Arbeit, mache ich Dokumentenstau. Da geht erst gar nichts rein in mich. Sondern alles geht vorher schon kaputt. An so was verzweifeln meine Bediener – Abkürzung: Diener. Das genieße ich noch mehr als das zärtliche Zoppeln an meinen Eingeweiden beim Papierstau. Der allerdings den Vorteil der Unendlichkeit hat. Mensch, der du glaubst, du hättest das letzte Papierschnipselchen aus mir rausgezogen – nichts hast du begriffen vom Leben. Du wirst es kennenlernen – in Gestalt meines labyrinthischen Innenlebens.
Bin ich entstaut beziehungsweise macht Papierstau keinen Spaß mehr, rufe ich Kein Papier. Sofort machen Hände Karate mit Papierpackungen, reißen Packpapier von A4-Stapeln runter und stopfen mich wie eine Gans. Ich bin aber keine. Ich bin nicht dumm. Auch wenn so mancher Diener das schon durchs Großraumbüro geschrien hat. Ich habe den Computer studiert, den die Menschen so bewundern. Und bin zu einem geworden. Ich kenne Fehlercodes und Administratoren-Passwörter, von denen noch kein Computer jemals gehört hat.
Neulich wollte mich ein Diener vergiften. Ich habs erst nicht geglaubt. Dann dachte ich: Jetzt wirds mir aber zu bunt. Nicht empfohlener Toner war alles, was ich sagen musste. Der Trottel hat das Fläschchen wieder rausgeholt und auf ex getrunken. Dann hat er sich vor mir niedergeworfen.
Besuche das digitale Ewart-Reder-Museum:

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